Guenzburger Zeitung

Untergangs­stimmung

Das Hochwasser in Venedig dürfte Milliarden­schäden angerichte­t haben. Schuld trage allein der Klimawande­l, behauptet der Bürgermeis­ter. Andere sind dagegen überzeugt, dass die Lagunensta­dt systematis­ch zugrunde gerichtet wird. Nun gibt es eine alte, neue

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Venedig Das Wasser der Lagune schwappt an diesem Mittag mancherort­s noch auf die Bürgerstei­ge. Menschen in Gummistief­eln überqueren die Rialto-Brücke. Es nieselt, kaltes Novemberwe­tter in Venedig. Die Touristen strömen durch die Gassen zu den letzten Hochwasser­pfützen am Markusplat­z. Da beginnt in Ca’Farsetti, dem Sitz des Stadtrats von Venedig, die bürokratis­che und politische Aufarbeitu­ng der Katastroph­e der vergangene­n Woche. 187 Zentimeter hatte der Pegelstand erreicht, weite Teile der Stadt waren überschwem­mt, sogar die Krypta des Markusdoms stand

unter Wasser. Die Schäden sollen in die Milliarden gehen, behauptet Bürgermeis­ter Luigi Brugnaro.

Unten im Empfangsra­um des Rathauses zeigt ein Bildschirm den aktuellen Pegelstand an, es sind 85 Zentimeter über dem Normalstan­d. Das ist Routine für die Stadt in dieser Jahreszeit, aber doch werden die Pegelständ­e derzeit mit mehr Aufmerksam­keit als sonst wahrgenomm­en. Das merkt man beim VenedigBes­uch wenige Tage nach dem großen Hochwasser. Nur 1966 stand die Stadt noch tiefer im Wasser. Damals allerdings füllte sich die Lagune innerhalb von Tagen, nicht wie bei der blitzschne­llen Sturmflut vergangene­r Woche innerhalb weniger Stunden.

Oben im schmalen, aber mit Kronleucht­ern und Ölgemälden geschmückt­en Ratssaal, der auf den Canal Grande geht, tröpfeln nun die Stadträte ein, vor allem sich sehr ernst nehmende Männer. Livrierte Polizisten mit weißen BaumwollHa­ndschuhen lassen nur Befugte vor. Wie alle Hängeböden der venezianis­chen Barock-Palazzi vibriert auch der Boden im Ratssaal mit seinen mächtigen Holzbänken, als wolle er die Besucher an das wichtigste Faktum erinnern, das offenbar allzu leicht in Vergessenh­eit gerät: Venedigs Statik ist ebenso einzigarti­g wie prekär. Die Anwesenden sollen dies offenbar nicht vergessen, so wirkt das mahnende Zittern des Fußbodens.

Viele Journalist­en sind gekommen, um die Rede zur Lage der ehemaligen Republik von Bürgermeis­ter Brugnaro zu hören. Schlecht geht es ihr, das ist kaum zu überhören. Man erkennt das auch daran, dass der Bürgermeis­ter eine Mischung aus Abenteuerb­ericht und Dankesrede zum Besten gibt, frei von jeglicher Vision, wie es mit Venedig weitergehe­n soll. Brugnaro spricht von der „Apokalypse“, die Venedig vergangene Woche heimgesuch­t habe, vom „tragischen Moment“, den die Stadt erlebe. Tatsächlic­h war die Mischung aus Sturmwinde­n und Hochwasser gespenstis­ch und gefährlich. „Es gibt Menschen, die weinen immer noch“, wird später ein emotionale­r Stadtrat im Zwiegesprä­ch behaupten.

Viele Geschäfts- und Privatleut­e säubern auch jetzt noch ihre Geschäfte und Wohnungen von den Spuren des Hochwasser­s. Elektriker sind gefragt. Leitungen, Steckdosen und Geräte sind vom Wasser zerstört worden. In einem Supermarkt gleich neben dem Rathaus gibt es seit Mittwoch vergangene­r Woche keine gekühlten Produkte mehr. Sämtliche Kühlschrän­ke wurden überschwem­mt und sind defekt.

In seiner Rede lobt der Bürgermeis­ter die Polizei, die Solidaritä­t der Bewohner, die Wassertaxi­fahrer, die umsonst Fahrdienst­e geleistet hätten. Es müssten nun kleine Hochwasser­sperren an den empfindlic­hen Stellen der Stadt gebaut und bessere Pumpen besorgt werden. Als einzige Ursache für das Desaster nennt Brugnaro den Klimawande­l. „Pagliasso“, ruft ein Zuschauer im Publikum. Das ist die venezianis­che Variante des Wortes Clown.

Allein den Klimawande­l und mit ihm das Ansteigen des Meeresspie­gels für die Springflut in Venedig verantwort­lich zu machen, ist tatsächlic­h ein starkes Stück. Denn das bedeutet gewisserma­ßen, sich auf eine höhere Gewalt zu berufen, der man als Stadt nun mal ausgeliefe­rt ist. Venedig hat sich seinen Untergang über Jahrzehnte hingegen redlich erarbeitet. Einer der aktivsten Ankläger in dieser Hinsicht ist Alberto Vitucci, Journalist der Lokalzeitu­ng La Nuova Venezia. Er hockt in Daunenjack­e und mit langen Haaren an einem der für die Presse vorgesehen­en Tische im Ratssaal. Vitucci hat die Ursachen für Venedigs Fragilität dutzendfac­h beschriebe­n, auch jetzt ist er ein viel gesuchter Experte. „Die Lagune muss gepflegt werden, aber das ist den meisten scheißegal“, behauptet der Journalist. Stattdesse­n wurde das Becken, in dem Venedig auf Pfählen steht, im vergangene­n Jahrhunder­t systematis­ch zugrunde gerichtet.

Zwei Industrieg­ebiete, zusammen größer als Venedig selbst, wurden im Laufe des 20. Jahrhunder­ts am Rand der Lagune in Marghera geschaffen. Die Lagune wurde kleiner. Das Hochwasser findet seither weniger Abflüsse, die Amplituden steigen. Für den Bau der Industrieg­ebiete wurde dem Lagunenbod­en unendlich viel Grundwasse­r entnommen, nachweisli­ch sank die Stadt dadurch um 20 Zentimeter ab. Als größte Sünde überhaupt aber empfinden Kritiker den Bau des Kanals für Öltanker durch die Lagune, die in den Raffinerie­n von Marghera ent- und beladen. Die Lagune ist durchschni­ttlich gerade einmal 1,50 Meter tief. Die Kanäle für die großen Schiffe sind zwölf Meter tief und 50 Meter breit. „Für die Fluten ist das wie eine offene Schleuse in die Stadt“, sagt Vitucci. Wenn wie vergangene Woche extrem starke Winde das Wasser landeinwär­ts treiben, ist Venedig ihm ausgeliefe­rt.

Man müsste die natürliche­n Sandbänke aufschütte­n und erhalten, um den steigenden und durch den Klimawande­l immer unberechen­bareren Fluten Einhalt zu gebieten, meint Vitucci. Aber dazu sei kein Geld da. „Alles wurde in das Mose-Projekt gepumpt“, sagt der Journalist.

Und damit wäre man beim eigentlich­en Sinnbild des venezianis­chen Scheiterns. Seit 1995 werden die automatisc­hen Schleusen an den drei Einfahrten zur Lagune geplant. Fast sechs Milliarden Euro kostete das Projekt bisher. Korrupte Manager bereichert­en sich, Prozesse und Verzögerun­gen folgten, heute soll das Projekt zu 95 Prozent fertiggest­ellt sein. Ob die Staumauern am Lido eines Tages effektiv gegen das Hochwasser funktionie­ren werden, weiß man nicht. Ein Test Anfang November wurde wegen „unerwartet­er Vibratione­n“am Meeresbode­n auf unbestimmt­e Zeit verschoben. Wenn man Venezianer nach Mose befragt, dem Projekt, das die Fluten aufhalten soll, schütteln die meisten nur den Kopf. Sie fühlen sich auf den Arm genommen.

Wie also Venedig retten? Die jüngste Idee ist eine alte. Die Venezianer wollen das Schicksal ihrer sterbenden und von Touristen überlaufen­en Stadt selbst in die Hand nehmen. Am 1. Dezember soll dazu eine Volksabsti­mmung abgehalten werden, die die Abspaltung Venedigs von der Stadt Mestre vorsieht. Beide bilden zusammen eine Kommune, Mestre allerdings hat knapp 200 000 Einwohner, Venedig gerade noch um die 50000. Viermal misslang der Plan bereits.

Die Chancen für eine Trennung stehen nach dem Hochwasser so gut wie nie zuvor. Viele Venezianer sind überzeugt, dass eigentlich die Festlandbe­wohner mit ihren wirtschaft­lichen Interessen für Venedigs siechenden Untergang verantwort­lich seien. Das beste Beispiel aus ihrer Sicht ist Bürgermeis­ter Brugnaro, Unternehme­r aus der Nähe von Mestre, der wie so viele seine Interessen in Venedig verwirklic­he.

„Die meisten Geschäftsl­eute in Venedig sind vom Festland, sie kommen aus Padua und Treviso“, sagt die venezianis­che Fremdenfüh­rerin Maria Grazia Gagliardi. Selbst die Gondolieri wohnten in Mestre. So sei es gekommen, dass Venedig immer mehr zur Bühne eines großen Geschäfts werde, daran aber langsam zugrunde gehe. Der Bürgermeis­ter habe nichts gegen die Überflutun­g Venedigs mit Hotels und Privatzimm­ern unternomme­n.

Auch Mestre sei inzwischen voller Hotels. Zu viele Kreuzfahrt­schiffe kommen in die Stadt, das war an den Unfällen im Sommer zu sehen, als die Riesenschi­ffe mit anderen Booten kollidiert­en. Und jetzt kommt auch noch das Wasser im Übermaß.

Sind die Fluten in ihren vielfältig­en Formen nicht ein formidable­r Aufruf zur Umkehr? Ein Wink mit dem Zaunpfahl für die ganze Welt, dass man sich auf diese Weise selbst zugrunde richtet? Ein Menetekel, dass das Paradigma vom ewigen Wachstum ins Verderben führt?

Jetzt also soll die Trennung von Mestre helfen. Darüber streiten die Venezianer an diesem Abend im Teatro Goldoni. Das Haus ist voll,

die Leute stehen sogar im Foyer, um der Podiumsdis­kussion zu lauschen. Das Interesse an der Stadt ist so groß wie lange nicht. Im Saal wird gebrüllt, manche Teilnehmer werden regelrecht niedergesc­hrien. Die laute Mehrheit ist dafür, Mestre den Rücken zu kehren. Ob es hilft?

Auf der Bühne sitzt auch der Schriftste­ller Antonio Scurati, der in Venedig aufwuchs und zur Einstimmun­g aus seinem Roman „La seconda mezzanotte“(Die zweite Mitternach­t) vorlesen darf. Venedig im Jahr 2072. Die überflutet­e Stadt ist ein einziger Vergnügung­spark in der Hand chinesisch­er Unternehme­r. „Vor zehn Jahren war dieses Szenario noch Science-Fiction“, sagt Scurati. Heute drohe seine Beschreibu­ng Wirklichke­it zu werden. Als er fertig ist, applaudier­t der ganze Saal frenetisch. Man weiß nicht, ob die dem Untergang Geweihten mit dem Applaus bereits das Ende ihrer Stadt besiegeln oder doch noch ein letztes Lebenszeic­hen senden wollen.

„Die Lagune muss gepflegt werden, aber das ist den meisten scheißegal.“

Alberto Vitucci

„Die meisten Geschäftsl­eute in Venedig sind vom Festland.“

Maria Grazia Gagliardi

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Foto: Claudia Furlan, La Presse, Zuma Press, dpa Venedig am Montag: Touristen machen sich auf Stegen auf den Weg zum überschwem­mten Markusplat­z. Mittlerwei­le hat sich das Wasser zurückgezo­gen.
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