Untergangsstimmung
Das Hochwasser in Venedig dürfte Milliardenschäden angerichtet haben. Schuld trage allein der Klimawandel, behauptet der Bürgermeister. Andere sind dagegen überzeugt, dass die Lagunenstadt systematisch zugrunde gerichtet wird. Nun gibt es eine alte, neue
Venedig Das Wasser der Lagune schwappt an diesem Mittag mancherorts noch auf die Bürgersteige. Menschen in Gummistiefeln überqueren die Rialto-Brücke. Es nieselt, kaltes Novemberwetter in Venedig. Die Touristen strömen durch die Gassen zu den letzten Hochwasserpfützen am Markusplatz. Da beginnt in Ca’Farsetti, dem Sitz des Stadtrats von Venedig, die bürokratische und politische Aufarbeitung der Katastrophe der vergangenen Woche. 187 Zentimeter hatte der Pegelstand erreicht, weite Teile der Stadt waren überschwemmt, sogar die Krypta des Markusdoms stand
unter Wasser. Die Schäden sollen in die Milliarden gehen, behauptet Bürgermeister Luigi Brugnaro.
Unten im Empfangsraum des Rathauses zeigt ein Bildschirm den aktuellen Pegelstand an, es sind 85 Zentimeter über dem Normalstand. Das ist Routine für die Stadt in dieser Jahreszeit, aber doch werden die Pegelstände derzeit mit mehr Aufmerksamkeit als sonst wahrgenommen. Das merkt man beim VenedigBesuch wenige Tage nach dem großen Hochwasser. Nur 1966 stand die Stadt noch tiefer im Wasser. Damals allerdings füllte sich die Lagune innerhalb von Tagen, nicht wie bei der blitzschnellen Sturmflut vergangener Woche innerhalb weniger Stunden.
Oben im schmalen, aber mit Kronleuchtern und Ölgemälden geschmückten Ratssaal, der auf den Canal Grande geht, tröpfeln nun die Stadträte ein, vor allem sich sehr ernst nehmende Männer. Livrierte Polizisten mit weißen BaumwollHandschuhen lassen nur Befugte vor. Wie alle Hängeböden der venezianischen Barock-Palazzi vibriert auch der Boden im Ratssaal mit seinen mächtigen Holzbänken, als wolle er die Besucher an das wichtigste Faktum erinnern, das offenbar allzu leicht in Vergessenheit gerät: Venedigs Statik ist ebenso einzigartig wie prekär. Die Anwesenden sollen dies offenbar nicht vergessen, so wirkt das mahnende Zittern des Fußbodens.
Viele Journalisten sind gekommen, um die Rede zur Lage der ehemaligen Republik von Bürgermeister Brugnaro zu hören. Schlecht geht es ihr, das ist kaum zu überhören. Man erkennt das auch daran, dass der Bürgermeister eine Mischung aus Abenteuerbericht und Dankesrede zum Besten gibt, frei von jeglicher Vision, wie es mit Venedig weitergehen soll. Brugnaro spricht von der „Apokalypse“, die Venedig vergangene Woche heimgesucht habe, vom „tragischen Moment“, den die Stadt erlebe. Tatsächlich war die Mischung aus Sturmwinden und Hochwasser gespenstisch und gefährlich. „Es gibt Menschen, die weinen immer noch“, wird später ein emotionaler Stadtrat im Zwiegespräch behaupten.
Viele Geschäfts- und Privatleute säubern auch jetzt noch ihre Geschäfte und Wohnungen von den Spuren des Hochwassers. Elektriker sind gefragt. Leitungen, Steckdosen und Geräte sind vom Wasser zerstört worden. In einem Supermarkt gleich neben dem Rathaus gibt es seit Mittwoch vergangener Woche keine gekühlten Produkte mehr. Sämtliche Kühlschränke wurden überschwemmt und sind defekt.
In seiner Rede lobt der Bürgermeister die Polizei, die Solidarität der Bewohner, die Wassertaxifahrer, die umsonst Fahrdienste geleistet hätten. Es müssten nun kleine Hochwassersperren an den empfindlichen Stellen der Stadt gebaut und bessere Pumpen besorgt werden. Als einzige Ursache für das Desaster nennt Brugnaro den Klimawandel. „Pagliasso“, ruft ein Zuschauer im Publikum. Das ist die venezianische Variante des Wortes Clown.
Allein den Klimawandel und mit ihm das Ansteigen des Meeresspiegels für die Springflut in Venedig verantwortlich zu machen, ist tatsächlich ein starkes Stück. Denn das bedeutet gewissermaßen, sich auf eine höhere Gewalt zu berufen, der man als Stadt nun mal ausgeliefert ist. Venedig hat sich seinen Untergang über Jahrzehnte hingegen redlich erarbeitet. Einer der aktivsten Ankläger in dieser Hinsicht ist Alberto Vitucci, Journalist der Lokalzeitung La Nuova Venezia. Er hockt in Daunenjacke und mit langen Haaren an einem der für die Presse vorgesehenen Tische im Ratssaal. Vitucci hat die Ursachen für Venedigs Fragilität dutzendfach beschrieben, auch jetzt ist er ein viel gesuchter Experte. „Die Lagune muss gepflegt werden, aber das ist den meisten scheißegal“, behauptet der Journalist. Stattdessen wurde das Becken, in dem Venedig auf Pfählen steht, im vergangenen Jahrhundert systematisch zugrunde gerichtet.
Zwei Industriegebiete, zusammen größer als Venedig selbst, wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts am Rand der Lagune in Marghera geschaffen. Die Lagune wurde kleiner. Das Hochwasser findet seither weniger Abflüsse, die Amplituden steigen. Für den Bau der Industriegebiete wurde dem Lagunenboden unendlich viel Grundwasser entnommen, nachweislich sank die Stadt dadurch um 20 Zentimeter ab. Als größte Sünde überhaupt aber empfinden Kritiker den Bau des Kanals für Öltanker durch die Lagune, die in den Raffinerien von Marghera ent- und beladen. Die Lagune ist durchschnittlich gerade einmal 1,50 Meter tief. Die Kanäle für die großen Schiffe sind zwölf Meter tief und 50 Meter breit. „Für die Fluten ist das wie eine offene Schleuse in die Stadt“, sagt Vitucci. Wenn wie vergangene Woche extrem starke Winde das Wasser landeinwärts treiben, ist Venedig ihm ausgeliefert.
Man müsste die natürlichen Sandbänke aufschütten und erhalten, um den steigenden und durch den Klimawandel immer unberechenbareren Fluten Einhalt zu gebieten, meint Vitucci. Aber dazu sei kein Geld da. „Alles wurde in das Mose-Projekt gepumpt“, sagt der Journalist.
Und damit wäre man beim eigentlichen Sinnbild des venezianischen Scheiterns. Seit 1995 werden die automatischen Schleusen an den drei Einfahrten zur Lagune geplant. Fast sechs Milliarden Euro kostete das Projekt bisher. Korrupte Manager bereicherten sich, Prozesse und Verzögerungen folgten, heute soll das Projekt zu 95 Prozent fertiggestellt sein. Ob die Staumauern am Lido eines Tages effektiv gegen das Hochwasser funktionieren werden, weiß man nicht. Ein Test Anfang November wurde wegen „unerwarteter Vibrationen“am Meeresboden auf unbestimmte Zeit verschoben. Wenn man Venezianer nach Mose befragt, dem Projekt, das die Fluten aufhalten soll, schütteln die meisten nur den Kopf. Sie fühlen sich auf den Arm genommen.
Wie also Venedig retten? Die jüngste Idee ist eine alte. Die Venezianer wollen das Schicksal ihrer sterbenden und von Touristen überlaufenen Stadt selbst in die Hand nehmen. Am 1. Dezember soll dazu eine Volksabstimmung abgehalten werden, die die Abspaltung Venedigs von der Stadt Mestre vorsieht. Beide bilden zusammen eine Kommune, Mestre allerdings hat knapp 200 000 Einwohner, Venedig gerade noch um die 50000. Viermal misslang der Plan bereits.
Die Chancen für eine Trennung stehen nach dem Hochwasser so gut wie nie zuvor. Viele Venezianer sind überzeugt, dass eigentlich die Festlandbewohner mit ihren wirtschaftlichen Interessen für Venedigs siechenden Untergang verantwortlich seien. Das beste Beispiel aus ihrer Sicht ist Bürgermeister Brugnaro, Unternehmer aus der Nähe von Mestre, der wie so viele seine Interessen in Venedig verwirkliche.
„Die meisten Geschäftsleute in Venedig sind vom Festland, sie kommen aus Padua und Treviso“, sagt die venezianische Fremdenführerin Maria Grazia Gagliardi. Selbst die Gondolieri wohnten in Mestre. So sei es gekommen, dass Venedig immer mehr zur Bühne eines großen Geschäfts werde, daran aber langsam zugrunde gehe. Der Bürgermeister habe nichts gegen die Überflutung Venedigs mit Hotels und Privatzimmern unternommen.
Auch Mestre sei inzwischen voller Hotels. Zu viele Kreuzfahrtschiffe kommen in die Stadt, das war an den Unfällen im Sommer zu sehen, als die Riesenschiffe mit anderen Booten kollidierten. Und jetzt kommt auch noch das Wasser im Übermaß.
Sind die Fluten in ihren vielfältigen Formen nicht ein formidabler Aufruf zur Umkehr? Ein Wink mit dem Zaunpfahl für die ganze Welt, dass man sich auf diese Weise selbst zugrunde richtet? Ein Menetekel, dass das Paradigma vom ewigen Wachstum ins Verderben führt?
Jetzt also soll die Trennung von Mestre helfen. Darüber streiten die Venezianer an diesem Abend im Teatro Goldoni. Das Haus ist voll,
die Leute stehen sogar im Foyer, um der Podiumsdiskussion zu lauschen. Das Interesse an der Stadt ist so groß wie lange nicht. Im Saal wird gebrüllt, manche Teilnehmer werden regelrecht niedergeschrien. Die laute Mehrheit ist dafür, Mestre den Rücken zu kehren. Ob es hilft?
Auf der Bühne sitzt auch der Schriftsteller Antonio Scurati, der in Venedig aufwuchs und zur Einstimmung aus seinem Roman „La seconda mezzanotte“(Die zweite Mitternacht) vorlesen darf. Venedig im Jahr 2072. Die überflutete Stadt ist ein einziger Vergnügungspark in der Hand chinesischer Unternehmer. „Vor zehn Jahren war dieses Szenario noch Science-Fiction“, sagt Scurati. Heute drohe seine Beschreibung Wirklichkeit zu werden. Als er fertig ist, applaudiert der ganze Saal frenetisch. Man weiß nicht, ob die dem Untergang Geweihten mit dem Applaus bereits das Ende ihrer Stadt besiegeln oder doch noch ein letztes Lebenszeichen senden wollen.
„Die Lagune muss gepflegt werden, aber das ist den meisten scheißegal.“
Alberto Vitucci
„Die meisten Geschäftsleute in Venedig sind vom Festland.“
Maria Grazia Gagliardi