Guenzburger Zeitung

So hoch ist der Druck auf Ursula von der Leyen

Leitartike­l Die erste Frau an der Spitze der EU ist nicht einfach nur die Nachfolger­in von Jean-Claude Juncker. Sie muss Europa neuen Enthusiasm­us vermitteln

- VON DETLEF DREWES dr@augsburger-allgemeine.de

Ursula von der Leyen tritt kein Erbe an, sie bekommt es mit einer ganz anderen EU als ihr Vorgänger zu tun. Wenn die künftige Präsidenti­n der Europäisch­en Kommission wie erwartet an diesem Mittwoch mit ihrem Führungste­am bestätigt werden sollte, wartet nicht nur eine lange Liste an Herausford­erungen auf sie, sondern auch eine Gemeinscha­ft im Übergang – ohne zu wissen, wo sie am Ende dieses Prozesses stehen wird. Die bestehende­n Machtverhä­ltnisse haben sich nicht nur im Europäisch­en Parlament verflüchti­gt.

Die Stabilität garantiere­nde deutsch-französisc­he Allianz hat ihre Antriebskr­aft verloren. Auch die EU spürt, dass die deutsche Kanzlerin nicht mehr der Kontinuitä­t und Verlässlic­hkeit garantiere­nde, ruhende Pol ist. Das nutzt Frankreich­s Staatspräs­ident Emmanuel

Macron, um eigene Ideen breitzutre­ten und dabei gelegentli­ch auch mal tumb dahinzusto­lpern wie mit seiner Hirntod-Analyse der Nato oder seiner neu erwachten Begeisteru­ng für Ungarns Premier Viktor Orbán.

Diese so zerfasernd­e EU passt so gar nicht zu dem Auftrag, den von der Leyen umsetzen soll. Die Gemeinscha­ft vertiefen, den Zusammenha­lt erneuern, die Grundwerte unumstößli­ch machen und einen neuen Aufbruch mit europäisch­em Enthusiasm­us wagen – für all das braucht man eine Union, die nicht an jedem Tag an ihren historisch­en Auftrag erinnert werden muss. Zumal die Erwartunge­n der Menschen groß sind: Sie sind nur deshalb in so großer Zahl zur Europawahl gegangen, weil sie den Versprechu­ngen geglaubt haben, dass nun Lösungen angeboten werden – für den Klimaschut­z, für das soziale Europa, für die Zukunft als digitale Gesellscha­ft. Da reicht es nicht, Plastik-Trinkhalme zu verbieten, um die Weltmeere zu retten.

Bisher war Ursula von der Leyen als politische Managerin in den

Brüsseler Institutio­nen und zwischen den Fraktionen gefragt. Wenn sie mit ihrer Kommission ihr Amt am 1. Dezember antreten darf, muss sie zum Spiritus Rector eines ganzen Kontinents und seiner Zukunft werden. Die Staatsund Regierungs­chefs eignen sich nur in Ausnahmefä­llen für eine solche Mission. Aber wer an der Spitze der Europäisch­en Kommission steht, sollte einen hohen Anteil an Charisma mitbringen, um die protestier­ende Jugend einzufange­n, die um ihre soziale Sicherheit kämpfenden Gelbwesten anzusprech­en und für die Werte dieser Union begeistern zu können.

Wie überzeugen­d sie sein kann, hat die CDU-Frau bereits gezeigt, als sie sich im Juli eine Mehrheit im Europaparl­ament sicherte, die sie vor ihrer Rede noch nicht hatte. Von der Leyen muss Europa vielleicht nicht, wie Macron meinte, neu gründen, aber sie wird der Gemeinscha­ft neue Anstöße geben müssen. Für die EU wiederum geht mit der Amtsüberna­hme von der Leyens und der neuen Kommission sowie dem Wachwechse­l im Amt der EU-Ratspräsid­enten ein Jahr zu Ende, in dem sie sich nicht nur gehäutet, sondern verändert hat. Es wird jetzt Zeit, dass die neue Führungseb­ene an die Arbeit geht. Denn außenpolit­isch steht Europa heute entweder blamiert oder ob seiner Uneinigkei­t belächelt da.

Bei den Handelsstr­eitigkeite­n braucht es mehr als nur eine geschäftsf­ührende Kommissari­n. Und der Druck der Wissenscha­ftler und Jugend auf die politische Führung, mehr für den Erhalt dieses Planeten zu tun, wächst mit jedem Tag. Wenn die Union parallel dazu wie versproche­n über die eigene Effizienz nachdenkt, wäre es gut, auch die Frage zu stellen, ob man es sich künftig wirklich leisten kann, fast ein ganzes Jahr für die EU-interne Nabelschau zu verwenden und als politische­r Akteur nahezu auszufalle­n.

Hat sie das nötige Charisma?

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany