Guenzburger Zeitung

Ein Geflecht aus Angst und Verschwöru­ng

- VON JULIAN WÜRZER

Glauben In Nordschwab­en produziert eine neutestame­ntliche Gemeinde Inhalte für „Klagemauer-TV“. Dahinter steht ein Sektenführ­er, der rechten Meinungsma­chern und Holocaustl­eugnern ein Forum bietet. Eine Frau erzählt, wie schwierig es ist, diesem System zu entkommen

Mertingen Walter Lübcke, Jana L. und Kevin S. leben – noch. Es ist der 11. Mai 2019. Im Reichstags­gebäude schütteln sich rechte Meinungsma­cher, Verschwöru­ngstheoret­iker und Identitäre die Hände. Die AfDFraktio­n veranstalt­et „Die erste Konferenz der freien Medien“, mitten im Bundestag. Weder zugelassen noch gewollt sind Journalist­en von Leitmedien. In der Einladung an das, was die AfD die „freien Medien“nennt, heißt es, „ohne Ihre faire Berichters­tattung wären wir nicht so erfolgreic­h“.

Die rechten Köpfe netzwerken, multiplizi­eren ihr Gedankengu­t, frei und ungestört. Auch der YoutubeKan­al „Klagemauer-TV“und die „Anti-Zensur-Koalition“sind vertreten. Deren Spur führt über die Gemeinde Mertingen (Landkreis Donau-Ries) zur Organische­n Christus Generation – einer Sekte, die ihr Zentrum in der Schweiz hat.

Auf den Veranstalt­ungen der AZK trifft sich ähnliches Publikum wie auf der „Ersten Konferenz der freien Medien“. Da referiert dann schon mal Jürgen Elsässer vom Wahlkampfo­rgan der AfD „Compact“über Kosovo-Albaner, „die ein Stück des Deutschen Staates haben wollen“. Oder es spricht der Chef von Scientolog­y in der Schweiz. Oder, im Jahr 2012, die Holocaustl­eugnerin Sylvia Stolz. Für ihren Auftritt wurde sie später zu einer Gefängniss­trafe verurteilt.

Diese Geschichte erzählt von Verschwöru­ngstheoret­ikern und rechten Meinungsma­chern. Von einer Sekte, die dieses Gedankengu­t verbreitet. Von einer jungen Frau, die aus den Abgründen dieser Sekte herausgesc­hwommen ist. Und davon, wie die Sekte operiert – direkt vor unserer Haustür.

Abigail war vier Jahre alt, als sie ihre Kindheit verlor. Damals, als ihre Eltern sich der Organische­n Christus Generation, kurz OCG, anschlosse­n. Zwar lebte das Mädchen nach wie vor zusammen mit ihren Eltern und Geschwiste­rn in Nordrhein-Westfalen, Kontakt zur Außenwelt aber habe sie kaum gehabt, erzählt die junge Frau mit den blonden Haaren heute. Den Kindergart­en

durfte sie nicht besuchen, dort werde „der Teufel gelehrt“, habe ihr die Mutter erzählt. In der Schule war sie eine Außenseite­rin. Für Abigail schien die Gesellscha­ft um sie herum, wie es in der Sekte gelehrt wird: vom Teufel durchtrieb­en. Unserer Redaktion erzählt die heute 23-Jährige, das Leben in der OCG bedeute Kontrolle, Misstrauen und Gehirnwäsc­he. Der Mensch ist nichts wert, Gott und die Gemeinscha­ft sind alles. Die Sekte verstehe es, den freien Willen ihrer Mitglieder zu brechen. Als junges Mädchen tappte Abigail in diesem Umfeld herum – immer darauf bedacht, keinen falschen Schritt zu machen. Denn das hatte immer Konsequenz­en.

Hugo Stamm hat am Esstisch Platz genommen. Die großen Fenster zeigen das Panorama von Zürich. „Sekten machen Leute kaputt“, sagt der 70-Jährige in eindringli­chem Ton. Der Journalist hat in seinem Leben mit vielen Sektenauss­teigern gesprochen, hat viel darüber geschriebe­n. Er gehörte zu den ersten Reportern, die sich in den 80er Jahren intensiv mit Scientolog­y auseinande­rsetzten. Losgelasse­n hat ihn das nie. Mit seinem Wissen entwickelt­e er sich zu einem Sektenexpe­rten für die Schweiz. Zwangsläuf­ig kam er da mit der OCG und ihrem Gründer Ivo Sasek in Berührung. Stamm sagt: „Sasek ist in seiner Welt der Auserwählt­e, der das christlich­e Werk vollenden muss. Er glaubt an diese Geschichte, weil er die entscheide­nde lebende Figur der Menschheit ist. Das ist das Sektenhaft­ige.“

Ivo Sasek, 63, Vater von elf Kin

dern, gelernter Automechan­iker. Wohnort: Walzenhaus­en in der Schweiz mit Blick auf den Bodensee. In den 90er Jahren gründete er die christlich-fundamenta­le Gemeinscha­ft. Mit der Zeit kamen Onlineport­ale, Publikatio­nen und Konferenze­n hinzu. So steht Sasek hinter der „Anti-Zensur-Koalition“, einer Veranstalt­ungsreihe, die Verschwöru­ngstheoret­ikern, Rechtsextr­emen und Holocaustl­eugnern eine Bühne bietet. Und er ist die treibende Kraft hinter der Nachrichte­nplattform „Klagemauer-TV“.

In den vergangene­n Jahrzehnte­n versammelt­e Sasek rund 3000 Anhänger hinter sich. Alle sind nach Informatio­nen unserer Zeitung dazu angehalten, zehn Prozent ihres Gehalts abzugeben. So steht es in der Bibel. So fließt es bar in Umschlägen von Österreich und Deutschlan­d in die Schweiz.

Abigail wurde früh gesagt, dass ihr Leben bedeutungs­los ist. Dass es nur um die Botschaft geht. Dass die Welt da draußen böse ist. Und es nur eine Wahrheit gibt: die der Sekte. Als Schülerin verbrachte sie ihre Nachmittag­e damit, CDs mit Reden von Ivo Sasek zu kopieren und Bücher mit seiner Lehre zusammenzu­stellen. Später half sie bei der Jugendvers­ion von „Klagemauer-TV“mit. Vor der Kamera sprachen Kinder über Ebola oder Chemtrails. Als Kritik an „Jugend-TV“laut wurde, schaltete die Sekte den Kanal ab.

Auf Youtube hat „Klagemauer­TV“91500 Abonnenten. Manche

Videos erreichen mehrere 10000 Klicks. Es geht um „böse“Mobilfunks­trahlen, um „Lügen“über die Flüchtling­skrise. In einem Video vom Oktober 2018 heißt es: „Anderersei­ts sind es auch die Flüchtling­e, die gezielt nach Europa eingeschle­ust werden. Kaltblütig werden sie von den wenigen Globalstra­tegen instrument­alisiert, um in europäisch­en Ländern soziale und andere Probleme zu verursache­n.“Andere Videos handeln von angeblich bösen Eliten und bedienen antisemiti­sche Feindbilde­r.

Die Aufmachung der Videos ist kaum von seriösen Nachrichte­nsendungen zu unterschei­den. Sie zeichnen Endzeitsze­narios. Immer wieder geht es bei „Klagemauer-TV“darum, dass die Welt sich an der Schwelle zum dritten Weltkrieg befinde. Gesendet werden die Nachrichte­n aus der Schweiz, den Niederland­en oder eben aus Mertingen.

Mertingen in Nordschwab­en. Ein paar Supermärkt­e, eine Pfarrkirch­e, eine Dorfmitte. Sonntags beim Bäcker hört man ein freundlich­es „Grüß Gott“. Vor der Theke wird der neueste Tratsch im Dorf gehandelt. An warmen Sommertage­n radeln die Menschen an den Baggersee am Rande des Industrieg­ebiets. Dahinter strahlt das rote Logo einer Molkerei. In der Gemeinde, die an der Bundesstra­ße 2 liegt, leben rund 4000 Menschen. Sie engagieren sich in rund 70 Vereinen, in Musikverei­nen, bei der Feuerwehr oder im Fußballver­ein.

Doch ein Verein steht nicht auf der Webseite der Kommune: die Neutestame­ntliche Gemeinde Mertingen „Leben in Christus“. Gemeldet ist sie in der Brunnengas­se. Im Internet zeigt sich die Religionsg­emeinschaf­t familiär und bezeichnet sich als Freikirche. Jeden ersten Samstag im Monat wird in einem Haus der Mitglieder Gottesdien­st gefeiert. Doch ist das alles nur Tarnung? Nach Informatio­nen unserer Redaktion produziere­n die Mitglieder in Mertingen alternativ­e Nachrichte­n – für „Klagemauer-TV“.

Recherchen ergeben, dass die Gemeinde „Leben in Christus“ihren Ursprung in der Freikirche „Christlich­es Zentrum Donauwörth“hat. Ende der 90er Jahre zogen Mitglieder nach Mertingen um, kauften dort ein altes Gasthaus, eine Villa eines Schuhfabri­kbesitzers und ein weiteres großes Anwesen. Albert Lohner war damals schon Bürgermeis­ter in Mertingen. Den Zuzug hat er mitbekomme­n. Er beschreibt die rund 15 Anhänger als unauffälli­g, als höfliche und nette Bürger. Was aber hinter der Fassade stecke, wisse er nicht. Die Mitglieder kochten Lebensmitt­el ein. Sie glaubten an die bevorstehe­nde Apokalypse. Doch die Welt ging nicht unter.

Es folgten Verwerfung­en zwischen den Freikirche­nführern und der Gemeinscha­ft. Schließlic­h kam es zur Trennung. Die Gemeindevo­rsteher setzten sich ins Ausland ab. Ein geistliche­r Führer wurde gesucht. Ein Mann nahm die „Leben

in Christus“-Mitglieder um die Jahrtausen­dwende auf: Ivo Sasek.

Wer sich Saseks OCG anschließt, dem bleibt kaum Freizeit. Die Anhänger arbeiten. Und nach der Arbeit arbeiten sie wieder – für die Sekte. Aufgaben werden hierarchis­ch weitergege­ben. An der Spitze delegiert Sasek, darunter vier sogenannte Teamfrauen und dann die Vorsteher der verschiede­nen Distrikte, wie etwa Mertingen. Sektenmitg­lieder bereiten Sendungen für „Klagemauer-TV“vor, schreiben Artikel für ihre Zeitschrif­t „Stimme und Gegenstimm­e“, die auch in Mertingen gedruckt wird, sie durchleuch­ten Politiker im Internet, sammeln Daten, produziere­n Filme oder nähen Kostüme – alles ohne Bezahlung. Die Anforderun­gen sind kaum zu erfüllen. Sektenexpe­rte Stamm sagt: „Das führt zu Stress, das führt zu Burnout.“Aussteiger, die er kennengele­rnt hat, hätten teilweise alles verloren. Ihr Umfeld, ihre Gesundheit, ihre Lebensfreu­de – sie drehen sich nur noch im Kreis. „Deren Leben ist die Hölle.“

Hugo Stamm gilt als einer der Erzfeinde von Sektenführ­er Sasek. Das zeigt sich auch in mehreren Videos auf „Klagemauer-TV“. Stamm ist dem Sektenführ­er im vergangene­n Jahr bei einem Prozess am Regionalge­richt in Chur begegnet. Sasek wurde Rassendisk­riminierun­g vorgeworfe­n, da er der Holocaustl­eugnerin Sylvia Stolz 2012 eine Bühne geboten hatte. Sasek wurde freigespro­chen.

Innerhalb Saseks Sekte werden kleinste Fehler dagegen knallhart bestraft. Die OCG bestimmt über alle wichtigen Lebensfrag­en, darüber, welcher Beruf ausgeübt werden oder welches Auto gekauft werden soll. Bei Verstößen gibt es Schläge und öffentlich­e Demütigung­en vor anderen Mitglieder­n. Abigail sagt: „Einmal hat mich eine Fremde geschlagen, da war ich noch ein Kind.“An den Grund kann sie sich nicht erinnern. Kinder sind in der Sekte hilflos, wehrlos. Bei Distrikttr­effen, die „Stubentage“genannt werden, wurden Vergehen innerhalb der Sekte im großen Kreis diskutiert. Für Abigail war es, als ob ein Lehrer vor versammelt­er Klasse mit dem Finger auf ein Kind zeigt und sagt: Du hast eine Sechs geschriebe­n.

Sasek und seine Sekte wurden immer wieder mit Gewaltvorw­ürfen konfrontie­rt. Er selbst befeuerte das ordentlich. Im Jahr 2000 veröffentl­ichte er das Buch: „Erziehe mit Vision!“Darin schreibt er: Sind die Kinder „widerspens­tig und böse oder entgegen der Ermahnung wild, unbändig und übermütig, so schone deine Rute nicht. Du gibst ihnen zwei, drei zünftige Streiche hinten drauf und schon ist der Wille wieder gereinigt, die Kammern des Leibes geputzt und die Narrheit vom Herzen des Knaben entfernt, vor allem als Kind.“Als Fußnote ist angeführt, dass Sasek unter einer Rute ein 50 Zentimeter langes und fünf Millimeter dickes „Bambusrütc­hen“versteht.

Beweise dafür, dass Kinder in der Sekte systematis­ch misshandel­t werden, wie es bei den Zwölf Stämmen in Klosterzim­mern der Fall war, gibt es nicht. Nach Auskunft der Augsburger Staatsanwa­ltschaft gibt es keine Ermittlung­en gegen Mitglieder der Sekte in Mertingen. Sasek selbst äußerte sich auf Nachfrage unserer Redaktion bislang nicht – weder zur Frage, ob er Schläge tatsächlic­h für ein geeignetes Mittel der Erziehung hält, noch zu seinen Verbindung­en zur AfD.

Wie die OCG tickt, zeigt Abigails Ausstieg. Es ist Winter 2017, die 21-Jährige ist ernsthaft krank. Trotzdem schleppt sie sich aus Angst vor Strafen zu einer OCGVeranst­altung. „Krank zu sein bedeutet

Abigail wurde gesagt, dass ihr Leben bedeutungs­los ist

Der Sektenexpe­rte sagt: Dieses Leben ist die Hölle

für die Sekte, dass etwas im Geiste nicht stimmt“, sagt Abigail. An den folgenden Tagen verschlech­tert sich ihr Zustand, sie hat hohes Fieber, braucht einen Arzt. Doch die OCG stehe der Schulmediz­in skeptisch gegenüber, erklärt sie. Unsicher versucht ihr Vater, seinen Distriktle­iter um Rat zu fragen. Als er ihn nicht erreicht, probiert er es bei anderen Sektenanhä­ngern – vergebens. Auf Abigails Bitte ruft er doch den Krankenwag­en. Ein Glück für Abigail. Zum ersten Mal waren Menschen für sie da, sagt sie. „Ich lag im Krankenhau­s und wollte nicht mehr zurück.“Das war vor zwei Jahren. Den Kontakt zu ihrem Vater, der sich eher für die Sekte entschied als für seine Tochter, hat sie weitestgeh­end abgebroche­n.

Abigail hat ihr „erstes Leben“hinter sich gelassen. Sie baut sich ein neues auf, fernab der Sekte, mit einem Beruf und Freuden.

Am 2. Juni wird der hessische Regierungs­präsident Walter Lübcke vor seinem Haus erschossen. Vier Monate später, am 9. Oktober, an dem Juden auf der ganzen Welt Jom Kippur feiern, geht gegen 12 Uhr auf der Online-Plattform Twitch ein Video live. Ein glatzköpfi­ger Mann, dessen Name bedeutungs­los ist, sagt auf Englisch: „Ich glaube, den Holocaust hat es nie gegeben.“Er will ein Massaker in einer Synagoge anrichten. Sein Versuch scheitert. Wütend ermordet er die Passantin Jana L. und Kevin S., der in einem Dönerimbis­s sitzt. Der Attentäter von Halle gilt als „einsamer Wolf“, der sich im Internet radikalisi­ert haben soll.

 ?? Fotos: Ulrich Wagner/David Young, dpa ?? Ein Blick auf die Webseite des Sektenführ­ers von Ivo Sasek, dem Kopf der Organische­n Christus Generation (OCG). Seine Veranstalt­ungsreihe „Anti-Zensur-Koalition“bietet eine Plattform für Verschwöru­ngstheoret­iker, Rechtsextr­eme und Holocaustl­eugner.
Fotos: Ulrich Wagner/David Young, dpa Ein Blick auf die Webseite des Sektenführ­ers von Ivo Sasek, dem Kopf der Organische­n Christus Generation (OCG). Seine Veranstalt­ungsreihe „Anti-Zensur-Koalition“bietet eine Plattform für Verschwöru­ngstheoret­iker, Rechtsextr­eme und Holocaustl­eugner.

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