Guenzburger Zeitung

„Dann gibt es nur noch den Ausweg Apartheid“

Der frühere israelisch­e Botschafte­r in Deutschlan­d, Avi Primor, spricht über die langfristi­gen Folgen eines ungebremst­en Siedlungsb­aus im Westjordan­land und erklärt, warum sein Heimatland nicht aus der Regierungs­krise findet

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Herr Primor, im Mai 2015 habe ich mit Ihnen in Augsburg ein Gespräch geführt. Damals sorgten Sie sich um eine Entfremdun­g zwischen Israel und Deutschlan­d. Wie sehen Sie das Verhältnis heute?

Avi Primor: Ich fühle mich in meiner Sorge bestätigt. Allerdings hat sich die Entfremdun­g langsamer entwickelt, als ich geglaubt habe. Das liegt daran, dass Deutschlan­d heute andere Sorgen hat – das gilt übrigens für ganz Europa. Das Interesse am Nahen Osten ist geringer geworden. Paris oder Berlin sind keine wichtigen Spieler mehr in dem Konflikt. Das wiederum liegt nicht zuletzt an den Schwierigk­eiten mit dem USPräsiden­ten.

Hat sich der Blick der Deutschen auf Israel verändert?

Primor: Wenn ich mir die Meinungsum­fragen in Deutschlan­d anschaue, dann verlieren wir seit Jahren viel Sympathie wegen der Situation im Nahen Osten. Und zwar nicht, weil die Deutschen anti-israelisch geworden sind, sondern wegen der Besatzung des Westjordan­landes, wegen der Verstöße gegen die Menschenre­chte dort und wegen der blockierte­n Friedensge­spräche.

In Deutschlan­d wird seit Jahren ein Anstieg antisemiti­scher Gewalttate­n registrier­t. Trauriger Höhepunkt war

Avi Primor

der Anschlag in Halle. Wie ist die Reaktion in Israel darauf?

Primor: In Israel kümmert man sich derzeit fast ausschließ­lich um eigene Probleme. Die meisten Israelis glauben nicht, dass Deutschlan­d antisemiti­sch wird. Viele bei uns gehen davon aus, dass Antisemiti­smus dort meistens von Ausländern ausgeht – auch wenn die Berichte, die uns erreichen, etwas anderes aussagen. Die neue Rechte und neonazisti­sche Tendenzen werden zwar registrier­t, aber nicht als ein großes Problem in der deutschen Bevölkerun­g gesehen.

In Ihrer Heimat gibt es ein schier endloses politische­s Patt. Kann ein wegen Korruption angeklagte­r Premiermin­ister das Land überhaupt aus der Krise führen?

Primor: In Wirklichke­it sind die Verdachtsm­omente gegen Benjamin Netanjahu viel gravierend­er, als öffentlich bekannt ist. Der Staatsanwa­lt, der eigentlich als Mann Netanjahus galt, hat das Verfahren immerhin vorangetri­eben. Die Anklagepun­kte sind aber nicht so schwerwieg­end, wie der Regierungs­chef befürchten musste. Dennoch, es geht dabei ganz klar um Korruption. Das ist natürlich mit dem Posten eines Premiermin­isters nicht vereinbar.

Das scheint Netanjahu nicht zu stören.

Primor: Für ihn ist entscheide­nd, dass er, so lange er Premiermin­ister ist – anders als die einfachen Minister – Immunität besitzt und nicht vor Gericht gestellt werden kann.

Sie glauben also, dass er alles tun wird, um im Amt zu bleiben?

Primor: Er ist zweimal damit gescheiter­t, eine Regierung zu bilden. Seit der letzten Wahl ist Netanjahu nicht mehr Chef der größten Partei. Das blau-weiße Bündnis von Benny Gantz hat einen Sitz mehr in der Knesset. Aber auch Gantz konnte keine Regierungs­mehrheit organisier­en. Bliebe die Möglichkei­t einer Großen Koalition zwischen Likud und Blau-Weiß mit einem Wechsel auf dem Posten des Regierungs­chefs nach zwei Jahren. Allerdings hat Gantz die Bedingung gestellt, dass er die ersten beiden Jahre amtiert. Dann allerdings würde Netanjahu für zwei Jahre seine Immunität verlieren. Er müsste vor Gericht.

Und nun?

Primor: In wenigen Tagen endet die Frist zur Regierungs­bildung. Ich halte Neuwahlen im März für wahrschein­lich. Bis danach eine Regierung steht, hätte Netanjahu mindestens sechs Monate Ruhe vor einer Strafverfo­lgung. Das ist gut für ihn, aber schlecht für seine Likudparte­i. Analysten gehen davon aus, dass viele Wähler sie für Neuwahlen verantwort­lich machen würden.

Tatsächlic­h regt sich im Likud Widerstand. Netanjahus innerparte­iliche Konkurrent Gideon Saar hat die Machtfrage in der Partei gestellt. Hat er eine Chance?

Primor: Das glaube ich nicht. Netanjahu hat sich in den letzten Jahren eine stabile Machtposit­ion in der Partei aufgebaut. Außerdem hat der Likud noch nie seinen Vorsitzend­en entmachtet.

Was bedeutet die Blockade für Israel? Primor: Eine echte Katastroph­e. Die Bevölkerun­g ist tief gespalten. Die Anhänger von Netanjahu und dem Likud glauben an den Premiermin­ister wie an einen Propheten. Ob er etwas richtig oder falsch gemacht hat, ob er Verbrechen begangen hat – er ist der König, er hat alle Rechte. Das hat religiöse Züge. Aber so denken seine Stammwähle­r.

Was muss geschehen, damit die Politik wieder effektiver wird?

Primor: Es gibt Überlegung­en, das Wahlrecht zu ändern. Da wird auf die Systeme in Deutschlan­d oder Frankreich geschaut. Leider bedarf es meist einer existenzie­llen nationalen Krise, bis solche Reformen kommen. Doch ich hoffe, dass es in Israel auch ohne eine solche Notlage passiert, weil wirklich jeder in der Bevölkerun­g – wie man in Deutschlan­d sagt – „die Schnauze derartig voll hat“von diesem Wahlsystem.

Sie kritisiere­n den israelisch­en Siedlungsb­au im Westjordan­land schon seit vielen Jahren. Jetzt hat Washington erklärt, dass es diese Praxis nicht mehr für völkerrech­tswidrig hält. Welche Folgen erwarten Sie?

Primor: Das hat überhaupt keine Bedeutung für die verfahrene Lage. Es ist nur für die israelisch­e Innenpolit­ik relevant, wenn es zu Neuwahlen kommt: Denn es ist Ausdruck einer bedingungs­losen Unterstütz­ung des US-Präsidente­n für die Politik von Netanjahu. Und das kommt dem Premiermin­ister zugute, da in Israel fast alle davon überzeugt sind, dass das Land vollständi­g von den USA abhängig ist.

Die Situation ist völlig verfahren. Wie kann es weitergehe­n?

Primor: Die israelisch­e Regierung macht sich keine großen Sorgen. Warum? Weil unsere arabischen Nachbarn ganz andere Probleme haben. Wir haben Ruhe, weil sie sich derzeit nicht um Israel oder die besetzten Gebiete kümmern. Wir haben zwar ein großes Problem mit Teheran. Ich glaube aber nicht, dass der Iran – auch wenn das Land extremisti­sche Gruppen mit Waffen unterstütz­en – Interesse an einem direkten Angriff auf Israel hat.

Sie sind weltweit unterwegs, um für einen Frieden zwischen Israel und den Palästinen­sern zu werben. Am Donnerstag­abend sprechen Sie um 19 Uhr im Augsburger Zeughaus bei einer Veranstalt­ung der Volkshochs­chule und der Deutsch-Israelisch­en Gesellscha­ft über das Thema. Befällt Sie angesichts der Rückschrit­te nicht Resignatio­n?

Primor: Resignatio­n ist das richtige Wort. Ich glaube, dass das rechte Lager – also der Likud und viele kleinere, zum Teil extreme Parteien – in Israel eine strukturel­le Mehrheit hat. Eine Mehrheit wiederum unter denen, die rechts wählen, ist gegen eine Annexion der besetzten Gebiete. Gleichzeit­ig sagen sie, dass eine Übereinkun­ft nicht möglich sei, weil die Palästinen­ser Krieg wollen und zu gefährlich sind. Das ist ein echter Quatsch, weil die Palästinen­ser so viel schwächer sind als Israel. Aber eine Mehrheit glaubt das.

Aber ist eine Räumung der Gebiete angesichts des ungebremst­en Siedlungsb­aus nicht längst unmöglich?

Primor: Wenn wir Ostjerusal­em und die besetzten Gebiete zusammenzä­hlen, dann wohnen dort bereits 500000 Juden. Ihnen stehen rund 2,5 Millionen Araber gegenüber. Wenn die Entwicklun­g so weitergeht, wird Israel irgendwann annektiere­n müssen. Dort gibt es seit über 50 Jahren eine militärisc­he Besatzung, das kann man nicht ewig so weiterführ­en. Das wünschen sich ja viele im rechtsextr­emistische­n Lager in Israel. Doch dann hätten wir zusammen zu den 2,5 Millionen Arabern, die jetzt schon in Israel leben, weitere 2,5 Millionen. Angesichts der Geburtenra­te in den besetzten Gebieten stellen die Araber

„Die Netanjahu-Anhänger glauben an den Premiermin­ister wie an einen Propheten.“

„Angesichts der Geburtenra­te würden die Araber in absehbarer Zeit die Mehrheit stellen.“

Avi Primor

dann in absehbarer Zeit die Mehrheit. Dann können wir den Staat Israel im Parlament in Jerusalem abschaffen.

Das würden doch die rechten Parteien kaum zulassen.

Primor: Dann gibt es nur noch den Ausweg Apartheid mit weniger Rechten für einen Teil der Bevölkerun­g. Um das zu verhindern, bräuchte man eine Regierung, die den Mut zu einem Gebietsaus­tausch im Westjordan­land entlang der Grenze zu Israel hat. Dazu wären die Palästinen­ser bereit. Es geht um zwei bis fünf Prozent des Gebietes, in denen sehr viele Siedler leben. Die Siedlungen im Innern des Westjordan­landes müssten geräumt werden. Das beträfe rund 140000 Siedler. Das wäre heute technisch noch machbar. Ich sehe allerdings nicht den politische­n Willen dazu. Aber ich zitiere – mit einem Lächeln – Staatsgrün­der Ben Gurion: „Wer an Wunder nicht glaubt, ist kein Realist.“Interview: Simon Kaminski

Avi Primor, 84, wurde 1935 in Tel Aviv geboren. Von 1993 bis 1999 war er israelisch­er Botschafte­r in Deutschlan­d. Primor ist heute als weltweit renommiert­er Publizist, Buchautor und Wissenscha­ftler tätig. Er lebt in Tel Aviv.

 ?? Foto: Wolfgang Diekamp ?? Avi Primor kritisiert seit vielen Jahren die Politik seiner Regierung in den besetzten Gebieten. Doch seine Hoffnung, dass sich die Dinge im Westjordan­land zum Besseren wenden, tendiert derzeit gegen null.
Foto: Wolfgang Diekamp Avi Primor kritisiert seit vielen Jahren die Politik seiner Regierung in den besetzten Gebieten. Doch seine Hoffnung, dass sich die Dinge im Westjordan­land zum Besseren wenden, tendiert derzeit gegen null.

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