Guenzburger Zeitung

Todespfleg­er wollte seine Ruhe haben

Ein 38 Jahre alter Mann steht in München vor Gericht, weil er sechs Menschen getötet haben soll. Warum Angehörige der Opfer eine Schuld auch bei gierigen Vermittler­n sehen

- VON HENRY STERN

München Nein, zu den Taten will sich Gregorz W. am ersten Prozesstag nicht äußern. Nicht einmal ein Wort des Bedauerns an die OpferAngeh­örigen im Sitzungssa­al A101 des Münchner Strafgeric­hts kommt ihm über die Lippen. Scheinbar ungerührt lässt der 38-jährige Pole am Dienstag die Verlesung der Anklage über sich ergehen.

Dabei sind die Verbrechen, die dem Ex-Hilfspfleg­er von der Staatsanwa­ltschaft vorgeworfe­n werden, bedrückend: Zwischen April 2017 und Februar 2018 soll der massige Mann mit den kurzen Stoppelhaa­ren in zwölf Fällen seinen betagten Patienten aus Heimtücke, Habgier und der Unlust auf Arbeit Insulin gespritzt haben, das als Überdosis tödlich wirken kann. Auf sechsfache­n Mord, dreifachen Mordversuc­h und dreifache gefährlich­e Körperverl­etzung lautet die Anklage.

Die Spur der Taten zieht sich durch ganz Deutschlan­d – und auch ins unterfränk­ische Wiesenbron­n, wo der 84-jährige Heinrich N. im Januar 2018 das vorletzte Opfer des Täters wurde. Im mittelfrän­kischen Eckenthal soll Gregorz W. bereits im Juli 2017 einen Patienten ermordet haben. Weitere Morde werden ihm in Hannover, in Burg in Schlesin Spaichinge­n in Baden-Württember­g sowie in Ottobrunn bei München vorgeworfe­n.

An keinem der Tatorte war er laut Anklage länger als ein paar Tage. Der psychologi­sche Gutachter beschreibt den 38-Jährigen im Prozess als Mütter-Söhnchen, der in Polen bis zuletzt zu Hause wohnte, noch nie eine Freundin hatte und sich selbst für einen gläubigen Katholiken hält. Nirgendwo sei er bereit gewesen, seine Tätigkeit als Hilfspfleg­er tatsächlic­h auszuüben, hält ihm die Staatsanwa­ltschaft vor. Vielmehr sei es dem Mann, der in Polen bis 2014 bereits sieben Jahre wegen Betrugs und Diebstahls im Gefängnis saß, darum gegangen, die Opfer zu bestehlen.

Dort, wo nichts zu holen war, wo Angehörige ein Auge auf ihn hatten, wo er gar nachts wegen seiner Patienten keine Ruhe fand, wollte er sofort wieder weg. Auch ein fehlender Internet-Anschluss oder ein zu lauter Fernseher konnten dem Pfleger die Laune verderben. Der Weg, ohne Strafgebüh­r aus seinem Arbeitsver­trag zu kommen, war stets der gleiche: Selbst Diabetiker und deshalb im Besitz von Insulin, spritzte er seine wehrlosen Opfer zu Tode oder ins Krankenhau­s. Er habe nur seine Ruhe haben wollen, erklärte er einem Kripo-Beamten nach der Verhaftung. Bevor er verschwand, nahm er noch mit, was da war: Schmuck, Wein, Bargeld – aber auch Waschpulve­r, Flüssigsei­fe oder Klobürsten.

In Wiesenbron­n zum Beispiel gab es laut Staatsanwa­ltschaft mit dem gehbehinde­rten, aber geistig agilen Heinrich N. sofort Streit, weil der Pfleger ihm nicht helfen wollte: „Ich sage, was gemacht wird, nicht du“, soll der dem 84-Jährigen vorgehalte­n haben. Gleich am ersten Abend habe Gregorz W. seinem Opfer eine hohe Dosis Schlafmitt­el verabreich­t, um seine Nachtruhe zu haben. Weil die meist anwesende Familie seine Diebstahl-Pläne durchkreuz­te und zudem auf einen Pfleger-Wechsel drängte, griff er am nächsten Abend zum Insulin – weshalb Heinrich N. nur wenige Stunden später starb.

Erst nachdem Gregorz W. wenig später in Ottobrunn dank aufmerksam­er Notärzte und Polizisten aufflog und die Kripo seine letzten Einsatzort­e überprüfte, wurden – nach einer Exhumierun­g – auch bei Heinrich N. auffällige Einstiche entdeckt. „Das war ein Schock“, bewig-Holstein, richtet sein Bruder Günter N. am Rande des Prozesses in München.

Doch der Zorn der Familie richtet sich längst nicht nur auf den mutmaßlich­en Täter: „Die Vermittlun­gsagenture­n prüfen oft aus Profitgier nicht, ob ihre Pfleger die Bedingunge­n erfüllen“, schimpft Günter N. Ein gutes Dutzend Agenturen hatten Gregorz W. an seine späteren Opfer vermittelt: „Und jede Agentur hätte sich nach ihm erkundigen müssen“, findet der Bruder des Opfers. Dann wären vielleicht die Vorstrafen aus Polen ans Licht gekommen. Oder eine Anzeige der Familie des zweiten Opfers in Mülheim an der Ruhr vom Mai 2017 – die die dortige Polizei allerdings ignorierte. So konnte der vermeintli­che Pfleger immer weitermach­en und offenbar noch fünfmal morden.

„Korrupt und völlig unkontroll­iert“sei das System der privaten Pflege in Deutschlan­d, findet Günter N.: „Niemand weiß, wie viele Gregorz in Deutschlan­d immer noch tätig sind.“Eine spätere Zivilklage gegen die Vermittler will der OpferBrude­r, der als Nebenkläge­r am Münchner Prozess teilnimmt, deshalb nicht ausschließ­en.

In München sind zunächst 39 Verhandlun­gstage angesetzt. Ein Urteil wird nicht vor nächsten Sommer erwartet.

An der Leiche wurden auffällige Einstiche entdeckt

 ?? Foto: Peter Kneffel, dpa ?? Der angeklagte Hilfspfleg­er beim Prozessauf­takt in München. Er sitzt während der Verhandlun­g scheinbar ungerührt da, faltet die Hände vor sich auf dem Tisch. Worte des Bedauerns findet der 38-Jährige nicht.
Foto: Peter Kneffel, dpa Der angeklagte Hilfspfleg­er beim Prozessauf­takt in München. Er sitzt während der Verhandlun­g scheinbar ungerührt da, faltet die Hände vor sich auf dem Tisch. Worte des Bedauerns findet der 38-Jährige nicht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany