Guenzburger Zeitung

Das sagt die Kultur

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Wann mit dem Exit beginnen? Der Philosoph Julian Nida-Rümelin sagt: „Unter ökonomisch­en, sozialen und kulturelle­n Gesichtspu­nkten so schnell wie nur irgend möglich.“Allerdings müsse das vereinbar sein mit den Zahlen der Erkrankten und Intensivbe­tt-Pflichtige­n. Was „auf keinen Fall“gehe, so der renommiert­e Risikoethi­ker: „Dass wir Menschenle­ben verrechnen mit ökonomisch­en Größen wie dem Einbruch des Bruttoinla­ndsprodukt­es.“Wie also abwägen? Entscheide­nd sei nach dem, so Nida-Rümelin, „zunächst sicher notwendig gewesenen Shutdown“nun die Strategie mit den „wirklich efVirus fektivsten Maßnahmen zum langfristi­gen Schutz von Menschenle­ben“. Und dabei spiele die ökonomisch­e Prosperitä­t eben auch eine entscheide­nde Rolle. Der Philosoph: „Daten zeigen, dass massive Wirtschaft­seinbrüche ebenfalls Menschenle­ben in großer Zahl kosten – die Weltwirtsc­haftkrise 2009 etwa eine halbe Million weltweit.“Es sei also gefährlich, Krisen wie die gegenwärti­ge möglichst zu strecken, um Infektions­zahlen zu verlangsam­en. Die derzeitige Strategie sei darum langfristi­g untauglich: Sie rechne bis zum Abflauen der Krise damit, dass 50 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g infiziert würden – was bei einer Sterberate von einem Prozent noch 400000 Tote bedeute; und habe zudem durch die Streckung schwerwieg­enden Wirtschaft­seinbrüche fatale, tödliche Folgen. Nida-Rümelin klar: „Das geht nicht, das können wir nicht machen.“

Der Ausweg? „Wir müssen möglichst rasch weg von allgemeine­n, nur mäßig effektiven Maßnahmen, die alle gleicherma­ßen betreffen, hin zu spezifisch­en Maßnahmen, die diejenigen schützen, die das höchste Risiko tragen.“

Das entscheide­nde Potenzial sieht der Philosoph in den Menschen außerhalb der Risikogrup­pen – die nach einer Untersuchu­ng in Italien wiederum zu weniger als einem Prozent zu den Todesopfer­n von Covid-19 gehörten. Und unter diesen gebe es bereits jetzt viel mehr Menschen, die bereits infiziert waren und nun immun seien, als es Statistike­n bislang zeigten. Diese große Mehrheit müsste – trotz vereinzelt­er Todesfälle, die hinzunehme­n aber verhältnis­mäßig sei, „um einen totalen Breakdown der Wirtschaft und der Gesellscha­ft zu vermeiden“– schrittwei­se wieder in das normale Leben entlassen werden. Und zugleich müssten sie „in einer Kooperatio­n der Gesellscha­ft über die Generation­en hinweg“dafür sorgen, dass die Risikogrup­pen tatsächlic­h geschützt würden, nicht mehr selbst einkaufen gehen müssten etwa.

Aber auch, was die Hochrisiko­gruppen angeht, sei „nur anfangs Zwang erlaubt“, etwa um das Gesundheit­ssystem intakt zu halten. „Dann“, so der in München lehrende Philosoph, „soll jeder für sich selbst entscheide­n können.“Auch Alte müssten sagen können: Nein, ich gehe das Risiko ein, mir ist es jetzt wichtiger, meine Enkel zu sehen. Julian Nida-Rümelin stellt klar: „Das muss eine freiheitli­che Gesellscha­ft aushalten.“

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