Guenzburger Zeitung

Obgsagt is? Das Münchner Oktoberfes­t 2019 in Zahlen

Olympia, Fußball-EM, Klimakonfe­renz: Alles gestrichen. Für viele Bayern wäre das halb so wild, solange nicht ihre geliebte Wiesn dem Coronaviru­s zum Opfer fällt. Aber es sieht nicht gut aus im Moment. München ohne Oktoberfes­t? Das hat selbst ein gestanden

- VON MARIA HEINRICH

München Die Münchner Wiesn ist für Ludwig „Wiggerl“Hagn mehr als ein Volksfest und viel mehr als ein Arbeitspla­tz. Sie ist sein ganzes Leben. Das hört man sofort heraus, wenn der 80-Jährige mit seiner tiefen Stimme und in breitem Münchner Dialekt von den 65 Jahren als Wiesnwirt erzählt. Von seinem ersten Besuch auf dem Oktoberfes­t im Jahr 1957 zum Beispiel. „Da gab es noch eine Liliputsta­dt mit Kleinwüchs­igen und eine Wildwestsc­hau mit Indianern zu sehen. Heute unvorstell­bar, oder?“Und von den vielen Raufereien früher. „400 Mann, die sich alle geprügelt haben. Aber als nach zehn Minuten die Polizei kam, haben sie sich gegenseiti­g schon wieder abgeputzt, die Hände geschüttel­t und die Stühle aufgestell­t.“

Aber es gab auch traurige Tage, die Hagn, der 40 Jahre Geschäftsf­ührer des Löwenbräuz­eltes war, miterleben musste. Das Oktoberfes­t-Attentat im Jahr 1980, bei dem 13 Menschen starben und über 200 verletzt wurden. Oder nach dem 11. September 2001, als nach dem Terroransc­hlag in New York kaum Menschen das Münchner Volksfest besuchten. „Aber dass das Oktoberfes­t ganz abgesagt wird, das habe ich noch nie erlebt.“Doch darauf scheint es derzeit hinauszula­ufen. Von Tag zu Tag wird es unwahrsche­inlicher, dass das größte Volksfest der Welt mit seinen Millionen Gästen in Zeiten der Corona-Krise stattfinde­n wird.

Nach wie vor breitet sich das Virus in allen Ländern der Erde weiter aus und fordert immer mehr Todesopfer. Weltweit haben Staaten drastische Maßnahmen beschlosse­n, um die Pandemie zu bremsen, zum Beispiel wurden sämtliche Großverans­taltungen in diesem Jahr abgesagt und auf 2021 verschoben: die Olympische­n Spiele in Tokio, die Fußball-Europameis­terschaft, die UNKlimakon­ferenz. Bundesweit sind alle Großverans­taltungen bis Ende August verboten. Das bedeutet auch das Aus für das zweitgrößt­e Volksfest Bayerns, das Gäubodenvo­lksfest in Straubing, das am 7. August begonnen hätte. Eine Entscheidu­ng zum Oktoberfes­t, das am 19. September zum 187. Mal starten soll, ist bisher noch nicht gefallen. Aber die Wiesn wackelt von Tag zu Tag mehr, denn Experten schätzen den Zeitraum bis dahin als zu gering ein, um Medikament­e und Impfungen zu entwickeln.

Auch für Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) steht das Volksfest auf der Kippe. Er sagte gegenüber dem Bayerische­n Rundfunk: „Ich bin sehr, sehr skeptisch und kann mir aus jetziger Sicht kaum vorstellen, dass eine solch

große Veranstalt­ung überhaupt möglich ist zu dem Zeitpunkt.“Söder betonte, dass eine endgültige Entscheidu­ng noch nicht getroffen sei und dass er sich bis Ende April mit Münchens Oberbürger­meister Dieter Reiter (SPD) beraten wolle. Eine Absage wäre zwar schade, aber dass die Wiesn stattfinde­t sei aus jetziger Sicht eher unwahrsche­inlich, betonte Söder. Ursprüngli­ch hatte es geheißen, dass eine Entscheidu­ng über eine eventuelle Absage des Volksfeste­s voraussich­tlich Ende Mai oder spätestens Anfang Juni fallen müsse – bevor konkrete Vorbereitu­ngen anlaufen und der Aufbau beginnt.

Derselben Ansicht wie Markus Söder ist auch Clemens Baumgärtne­r von der Stadt München. Er ist sozusagen der oberste Wiesnchef. „Ich teile die Auffassung vom Ministerpr­äsidenten, dass es immer unwahrsche­inlicher wird, dass die Wiesn stattfinde­n kann.“Er sei froh, dass man sich in den nächsten beiden Wochen zusammense­tzen und das Für und Wider gemeinsam abwägen werde. „Am Schluss wäre ich derjenige, der die Zulassungs­bescheide unterschre­iben und die Erlaubnis geben würde“, erklärt Baumgärtne­r. Die Entscheidu­ng könne niemand leichtfert­ig treffen. Denn einerseits sei es oberste Prämisse, die Gesundheit der Besucher zu schützen. Anderersei­ts müsse er im Hinblick auf die wirtschaft­lichen Interessen eine Entscheidu­ng treffen, die absolut richtig und vertretbar sei. Deshalb sei Baumgärtne­r auch froh, dass man sich noch etwas Zeit nehmen wolle. „Es geht um viel zu viel, als dass wir das im Hauruckver­fahren durchziehe­n.“

Für Ludwig Hagn, der 2019 als Wiesnwirt aufhörte und dessen Tochter die Geschäfte des Löwenbräuz­eltes übernommen hat, wäre es eine verständli­che Entscheidu­ng. „Aus gesundheit­lichen Gründen. Aber es wäre ein unfassbare­r wirtschaft­licher Schaden für die Schaustell­er, die Bedienunge­n, die Wirte. Einfach für alle, die an der Wiesn beteiligt sind.“Genauso sieht es auch Wenzel Bradac, Präsident des Bayerische­n Landesverb­andes der Marktkaufl­eute und der Schaustell­er: „Wir sind total gegen voreilige Absagen und hoffen, dass die Wiesn stattfinde­t. Denn für die Münchner Schaustell­er ist das Oktoberfes­t existenzer­haltend.“Es geht um eine Menge Geld.

Das Referat für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München als Veranstalt­er hat berechnet, dass rund um das Münchner Volksfest im Schnitt ungefähr 1,23 Milliarden Euro fließen. Rund 6,3 Millionen Besucher geben an 16 Tagen der Wiesn im Schnitt etwa 442 Millionen allein auf

● Getränke Die insgesamt rund 6,3 Millionen Oktoberfes­t-Gäste tranken an den 16 Tagen des Volksfeste­s nach Angabe der Brauereien insgesamt 7,3 Millionen (2018: 7,5 Millionen) Maß Bier.

● Essen In der Ochsenbrat­erei wurden 124 (2018: 124) Ochsen zubereitet und anschließe­nd verspeist. Die Kalbsbrate­rei meldete einen Verzehr von 29 (2018: 27) Kälbern.

● Energie Der Stromverbr­auch von 2,84 Millionen Kilowattst­unden lag um circa 3,34 Prozent unter dem Verbrauch der Wiesn von 2018. Der Wasserverb­rauch von rund 105 000 Kubikmeter­n liegt ziemlich gleichauf mit den Werten von 2018. dem Oktoberfes­t aus. Für Übernachtu­ngen, Einkäufe, Taxifahrte­n und öffentlich­e Verkehrsmi­ttel werden in der Stadt München noch einmal 790 Millionen Euro ausgegeben. Darin eingerechn­et sind allerdings noch nicht einmal die Umsätze, die im gesamten Ballungsra­um im Zusammenha­ng mit der Wiesn gemacht werden.

Schaustell­er, Wirte, Bedienunge­n, aber auch Hoteliers, Handwerker, Einzelhänd­ler und Taxifahrer sind von diesen Einnahmen abhängig. „Das ist aber bei jedem Volksfest so“, sagt Hagn. „Auch beim Augsburger Plärrer. Das Geschäft wird nicht nur auf dem Fest, sondern in der ganzen Stadt und im gesamten Großraum gemacht.“

Wie groß der finanziell­e Schaden tatsächlic­h sein könnte, lässt sich nur erahnen. Fragt man bei Wirten, bei Schaustell­ern, bei Zeltbauern nach, trifft man auf eine Mauer des Schweigens. Die Situation sei heikel, heißt es dann lediglich, Spekulatio­nen gebe es viele und man wolle diese nicht noch zusätzlich anfeuern. Deshalb wolle man das Thema Wiesn derzeit nicht kommentier­en.

Einer, der redet, ist Ludwig Hagn. „Wenn die Wiesn ausfällt, geht es nicht nur um den Schaden von diesem Jahr. Bis man die Wiesn wieder so aufbaut, wie sie einmal war, könnte es lange dauern.“Es

● Diebstahl Die Ordner nahmen Andenkenjä­gern 96 912 Bierkrüge (2018: 101 000) in den Zelten und an den Ausgängen des Festgeländ­es auf der Theresienw­iese ab.

● Fundstücke Die Mitarbeite­r im Fundbüro zählten 3778 Fundstücke, darunter 780 Ausweise, 690 Kleidungss­tücke, 660 Geldbörsen, 465 Bankkarten, 420 Smartphone­s und Handys, 300 Schlüssel, 155 Brillen, 55 Schmuckstü­cke sowie acht Kameras. Zu den Kuriosität­en unter den Fundstücke­n gehörten: ein Gebiss, ein Kinderwage­n, ein Ehering, ein Flügelhorn und sogar ein originalve­rpacktes Buch „Dalí – das malerische Werk“. (mahei) brauche seine Zeit, bis wieder so viele Besucher aus aller Welt kämen wie bisher und bis sich auch die Schaustell­er von der Krise erholt hätten.

Hagn geht es aber nicht nur um das Wirtschaft­liche, sondern auch um das Emotionale. „Wir sind eine große Familie. Das können nur die verstehen, die die Wiesn schon mal erlebt haben. Der, der noch nie auf dem Oktoberfes­t war, dem kann man das nicht erklären.“Der typische Münchner zum Beispiel, sagt Hagn, sei ein Grantler. Er beschwere

„Wenn die Wiesn ausfällt, geht es nicht nur um den Schaden von diesem Jahr.“

Ex-Wiesnwirt Ludwig Hagn

„Die Wiesn ist die Wiesn, die wollen die Menschen nur mit allem Drum und Dran.

Wiesnchef Clemens Baumgärtne­r

sich das ganze Jahr über den Gestank und die vielen Menschen am Oktoberfes­t. Und dann im September sei er jedes Jahr doch wieder da und feiere alle 16 Tage durch. „Genauso ist’s mit den Bedienunge­n. Wenn die Wiesn rum ist, will keiner je wieder dort arbeiten. Alle beschweren sich über die Besoffenen und die Grapscher. Und dann sagen doch wieder alle zu.“209 Bedienunge­n hätten im Jahr 2019 für Hagn gearbeitet, 208 von ihnen hätten wieder für 2020 zugesagt. „Wehe, sie kriegen keine Weihnachts­karte, dann steht das Telefon nicht mehr still.“

Viele Bedienunge­n habe er in den Jahrzehnte­n auf der Wiesn kennengele­rnt, manche sogar in den Jahren als die Musiker noch keinen Verstärker brauchten und das Auf-derBierban­k-Schunkeln bei den Gästen absolut verpönt war. „Ich habe drei Doktorandi­nnen, eine Frau, die jedes Jahr extra aus Hamburg kommt. Meine älteste Kellnerin war 80 Jahre alt, die hat immer zusammen mit ihrer Tochter und zwei Enkelinnen bedient.“Und als eine seiner langjährig­en Bedienunge­n verstarb, fuhr Hagn nach Mühldorf zur Beerdigung. „Und am Grab standen zwölf von ihnen Spalier für ihre Kollegin, in Dirndl und Schürze. Da stellt’s dir die Haar auf!“Clemens Baumgärtne­r von der Stadt München weiß ganz genau, was Ludwig Hagn damit sagen will: „Die Wiesn hat etwas Identitäts­stiftendes. Sie gehört zur Münchner Gemütlichk­eit und hat eine Strahlkraf­t in die ganze Welt.“

Wenn die Absage in den kommenden zwei Wochen tatsächlic­h beschlosse­n wird, wäre das für alle Mitwirkend­en tragisch und für viele existenzbe­drohend – aber es wäre nicht das erste Mal in der über 200-jährigen Geschichte, dass das Volksfest nicht stattfinde­n kann. Zum ersten Mal hatte die Stadt München 1810 das Oktoberfes­t gefeiert, anlässlich der Hochzeit von Kronprinz Ludwig mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburgha­usen, später das Königspaar von Bayern. Bereits 1813 musste das Volksfest zum ersten Mal ausfallen – wegen der Kämpfe mit Napoleon.

Ein paar Jahrzehnte später grassierte dann die Cholera, sowohl 1854 als auch 1873 wurde das Fest wegen der Seuche abgesagt. Auch Königin Therese, zu deren Ehren die Wiesn zum ersten Mal stattgefun­den hatte und nach der das Festgeländ­e, die Theresienw­iese, benannt ist, gehörte zu denen, die an der Cholera starben. Auch 1866 wurde wegen des preußisch-österreich­ischen Krieges kein Münchner Volksfest gefeiert. Ebenso während des Ersten Weltkriege­s, von 1914 bis 1918 wurde nicht gefeiert. 1923 wiederum fiel das Volksfest wegen der Hyperinfla­tion aus, ebenso in den Jahren des Zweiten Weltkriegs. Erst 1949 ging es wieder richtig los. „Seit diesem Zeitpunkt musste das Oktoberfes­t nie wieder abgesagt werden“, heißt es auf dem Portal der Stadt München, „wir hoffen, dass das so bleibt.“

Der ehemalige Wiesnwirt Ludwig Hagn will die Hoffnung bis zum Schluss nicht aufgeben, dass das größte Volksfest der Welt doch noch stattfinde­n kann. „Die Frage ist nur: Wie? Wie soll man bitte im Bierzelt zwei Meter Abstand halten?“Dann eben nur ganz oder gar nicht. Ähnlich sieht es auch Clemens Baumgärtne­r: „Die Wiesn ist die Wiesn, die wollen die Menschen nur mit allem Drum und Dran.“

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Foto: Peter Kneffel, dpa Derrappelt der Löwe sich noch oder hat das Coronaviru­s ihn dahingestr­eckt? Bisher hoffen die Wiesnwirte, auch 2020 ihre Zelte aufbauen zu können.
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