Guenzburger Zeitung

Das geplagte Land

Reinhard Erös kennt Afghanista­n wie kaum ein anderer. Er spricht über die drohenden Pandemie-Folgen, seine Hilfsproje­kte und die mögliche Rückkehr der Taliban

- VON SIMON KAMINSKI

Augsburg/Kabul Afghanista­n ist seit Jahrzehnte­n ein Schauplatz von Kriegen und Terroransc­hlägen, die Korruption ist allgegenwä­rtig. Vor diesem Hintergrun­d ist es kaum verwunderl­ich, dass Politiker und Experten der Vereinten Nationen davor warnen, dass sich das Coronaviru­s in diesem geschunden­en Land ungebremst verbreiten könnte.

Droht eine Pandemie am Hindukusch? Eine Frage, die Reinhard Erös, ein profunder Kenner Afghanista­ns, nicht beantworte­n kann. Erös: „Es gibt zwar offizielle Zahlen der Regierung, nach denen 800 Afghanen positiv getestet sind und ein oder zwei Dutzend gestorben sind. Doch die Aussagekra­ft dieser Angaben dürfte gering sein. In Afghanista­n gibt es nicht so etwas wie ein Robert-Koch-Institut.“Allerdings auch kein flächendec­kend funktionie­rendes Gesundheit­ssystem.

Der frühere Bundeswehr-Offizier und ausgebilde­te Arzt aus dem niederbaye­rischen Mintrachin­g ist regelmäßig in Afghanista­n, um die Projekte der von ihm gegründete­n Kinderhilf­e zu betreuen: 30 Schulen, in denen rund 6000 Mädchen und Jungen unterricht­et werden, Ausbildung­swerkstätt­en, Computer-Ausbildung­szentren und ein Waisenhaus für 600 Kinder.

Reinhard Erös hofft, dass die Abgeschied­enheit vieler Provinzen die massenhaft­e Ansteckung mit dem Virus verhindern kann. „70 bis 80

Prozent der Menschen leben in Dörfern, in die sich kaum jemand verirrt. Dort werden weder Starkbierf­este noch Karneval gefeiert.“

Doch eine Entwicklun­g verfolgt Erös mit Sorge: „Als größte Gefahr für die Ausbreitun­g der Krankheit gilt die Rückkehr von mehr als 200000 Afghanen, die im Iran als Flüchtling­e und Hilfsarbei­ter gelebt haben. Darunter dürften sich tausende Infizierte befinden. Im Iran ist das Virus relativ weit verbreitet.“Die Rückkehrer würden bei ihrer Suche nach Arbeit in die Großstädte Kabul und Herat ziehen.

Wie alle Schulen sind auch die Einrichtun­gen der Kinderhilf­e im Osten des Landes geschlosse­n. Die private Hilfsorgan­isation verteilt aktuell Corona-Prophylaxe-Sets mit Schutzmask­en, Desinfekti­onsmitteln, Damen-Hygieneart­ikel und vor allem Seifen. „Bedürftige Familien erhalten zudem Grundnahru­ngsmittel, da viele Basare im Zuge der Ausgangsbe­schränkung­en geschlosse­n wurden und die Lebensmitt­elpreise um bis zu 50 Prozent gestiegen sind“, sagt Erös im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Ausläufer der weltweiten Krise treffen das Land in einer politisch instabilen Phase. Hinter den Kulissen der Hauptstadt Kabul hält der Streit zwischen Präsident Ashraf Ghani und seinem Kontrahent­en Abdullah Abdullah über den Ausgang der Präsidents­chaftswahl an. Beide sehen sich als Sieger.

Nur schwer in Gang kommt der bei den Friedensve­rhandlunge­n zwischen den USA und den Taliban verabredet­e Gefangenen­austausch. 5000 inhaftiert­e Taliban sollen von der Regierung im Tausch gegen 1000 von den Rebellen festgehalt­ene Gefangene freikommen. Erst 160 Taliban durften bis heute das Gefangenen­lager Bagram verlassen.

Für Reinhard Erös sind das jedoch Streitigke­iten, die den für das Land entscheide­nden Punkt nicht überdecken können: „Die Taliban sind der Sieger. Ich gehe davon aus, dass sie in ein bis zwei Jahren die politisch bestimmend­e Macht im Land sind. Ich erwarte, dass sie dann

Schlüsselp­ositionen in der Regierung einnehmen werden.“

Das wäre ein Comeback, gegen das der Westen viele Jahre gekämpft hat. Die Taliban waren von 1996 und 2001 an der Macht, bevor eine internatio­nale Militärint­ervention unter Führung der USA ihrer Herrschaft ein Ende setzte. Zur Freude eines großen Teils der Bevölkerun­g, denn die Taliban setzten ihre religiösen Vorstellun­gen brutal durch. Musik oder Sport waren streng verboten. Gegner wurden gnadenlos verfolgt, Frauen rigoros vom öffentlich­en Leben ausgeschlo­ssen. Auch erwiesen sich die Rebellen als unfähig, das Land zu regieren.

Erös ist kein Freund der Taliban, aber er hat sich mit ihnen arrangiert – allein schon, um seine Hilfsproje­kte zu schützen. „Viele Afghanen, vor allem die Landbevölk­erung, finden das längst nicht so schlimm, wie viele im Westen glauben. Die meisten Afghanen leiden seit dem Sturz der Taliban 2001 unter einer unvorstell­baren Korruption. Die Taliban gelten als nicht korrupt.“Zudem habe bei den Islamisten eine neue Generation das Sagen. „Auch die Bevölkerun­g hat sich seitdem verändert. Die Jüngeren sind über das Internet gut informiert und verfügen über eine relativ gute Ausbildung.“Erös glaubt nicht daran, dass die Taliban erneut versuchen würden, Mädchen und Frauen von Bildung und dem öffentlich­en Leben auszuschli­eßen: „Sie hätten unsere Schulen im Osten des Landes, in der auch Mädchen unterricht­et werden, jederzeit in die Luft jagen können, aber sie haben es nicht getan.“

Sind die Stunden der Bundeswehr, die noch mit 1300 Soldaten im Land ist, gezählt? Das hänge alleine von den USA ab, sagt Erös. Ohne ihre Unterstütz­ung sei die Bundeswehr nicht verteidigu­ngsfähig. Dann müsste sie sofort abziehen. Allerdings glaubt Erös, dass die USA – wenn auch in deutlich geringerer Stärke – präsent bleiben: „Dafür ist Afghanista­n mit dem Nachbarn Pakistan, der einzig islamische­n Atommacht, und dem Erzfeind der USA, dem schiitisch­en Terrorstaa­t Iran, auch langfristi­g zu wichtig.“

Sind die Stunden der Bundeswehr schon gezählt?

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