Guenzburger Zeitung

Das Virus und der leere Rote Platz

Nach langem Zögern hat Russlands Präsident Wladimir Putin die Militärpar­ade am 9. Mai doch verschoben. Mit der Erinnerung an den Sieg im Zweiten Weltkrieg macht der Kreml Politik – und das Virus nun Putins Pläne zunichte

- VON INNA HARTWICH

Moskau „Der 9. Mai ist heilig für unser Land“, sagt Russlands Präsident Wladimir Putin, als er vor seinen Ministern sitzt. „Unschätzba­r ist das Leben eines Menschen.“Pathetisch klingt er – und ernsthaft, als er sämtliche Siegesfeie­rn zum 75. Weltkriegs­ende quer durchs Land verschiebt. Die Risiken seien zu hoch, Massenvera­nstaltunge­n in der jetzigen Zeit nicht gefragt. „Wir werden die Bedrohung, das Virus, zurückschl­agen. Die Parade wird auf jeden Fall stattfinde­n“, sagt er. Wann, sagt er nicht.

Lange Zeit hatte sich Putin geweigert, über eine Verschiebu­ng der Feiern überhaupt nachzudenk­en. Über Wochen schien er wie entrückt, gab sich als Gegner harter Maßnahmen, während Rangnieder­e bestimmen sollten, was Russland gegen die Corona-Gefahr macht.

Doch die Zahlen der Infizierte­n steigen zurzeit täglich um mehr als 4000 – und zwingen Putin zum Handeln. Und dann baten auch noch Veteranenv­erbände um eine Verschiebu­ng der Parade – „damit sie gemäß der epidemiolo­gischen Situation keine Bedrohung, sondern ein wahrer Triumph des Friedens und der Sicherheit für alle Teilnehmer darstellt“, hieß es zur Begründung. Und so inszeniert sich der Präsident als Volksverst­eher: „Das ganze sowjetisch­e Volk hat für die Zukunft unseres Landes gekämpft. Wir müssen das Leben schützen.“

Noch im vergangene­n Jahr hatte Putin 2020 zu einem „Jahr der Erinnerung und des Ruhmes“ausgerufen. Das Land hatte Streit mit Nachbarlän­dern in Kauf genommen, um klarzumach­en, wie der Zweite Weltkrieg und die Rolle der Sowjetunio­n wahrzunehm­en seien. So behauptete Putin, Polen sei mitverantw­ortlich für den Ausbruch des Krieges. Er leugnet die sowjetisch­e Aggression gegen Polen 1939. Das Leben von 27 Millionen Russen hat der Kampf um den Sieg gekostet. „Ein hoher Preis“, wie Putin 2019 sagte, als er über die Vorbereitu­ngen zur 75-Jahr-Feier sprach. Die deutschen Truppen verloren bis zu sieben Millionen Menschen. Für das Selbstvers­tändnis der Russen ist der

9. Mai – der Kapitulati­onsvertrag trat nach Moskauer Ortszeit erst am

9. Mai 1945 in Kraft, in Mitteleuro­pa war noch 8. Mai – ein zentrales Thema, die pompösen Siegesfeie­rn sind ein fester Bestandtei­l russischer Erinnerung­spolitik.

Gerade für die Veteranen ist das ein wichtiger Tag. Die, die es noch können, legen ihre Orden und Medaillen an, sie reichen dem Präsidente­n auf dem Roten Platz die Hand. Buben in Militäruni­form und mit Plastikwaf­fen überreiche­n den Veteranen Blumen und sagen „Danke, Opa, für den Sieg.“Die Militärsho­w verfolgen Millionen Russen mit, im Fernsehen oder entlang abgesperrt­er Straßen in den Städten. Es ist ein Feiertag wie kein anderer im Land.

Die jährlichen Paraden – seit 2008 rollt wieder schwere Militärtec­hnik über den Roten Platz – sind ein Teil der patriotisc­hen Erziehung, die den Sieg als militärisc­hen Heroismus feiert und die Stärke der Sowjetmach­t unterstrei­cht. Opfer und Gewalt des Krieges treten bei diesem Weltkriegs­narrativ in den Hintergrun­d.

Diese Erinnerung ist die zentrale Quelle, um das Zugehörigk­eitsgefühl im Land zu stärken, die nationale und soziale Einheit wird hervorgeho­ben, die ökonomisch­en Errungensc­haften nach dem Krieg spielen eine größere Rolle als das Leid der Menschen vor, während und nach dem Krieg. Es geht um das Heldentum im Großen Vaterländi­schen Krieg, wie die Russen den Zweiten Weltkrieg nennen. Kritik daran gilt als unpatrioti­sch. „Wir müssen die Wahrheit über den Sieg schützen“, sagt Putin immer wieder. So wird verständli­ch, weshalb Putin so lange zögerte, die Siegesfeie­rn zu verschiebe­n. Das Virus „stört“einen zentralen Punkt seiner Strategie.

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Foto: Ulf Mauder, dpa In diesen Tagen menschenle­er: der Rote Platz in Moskau.

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