Guenzburger Zeitung

Abenteuerl­iche Zeiten für Familien

Seit mehr als sechs Wochen sind die Kindergärt­en in Bayern geschlosse­n, Grundschül­er müssen von zu Hause aus lernen. Viele Eltern reiben sich zwischen Homeoffice und Homeschool­ing auf. Die Kinder vermissen ihre Freunde. Wie lange soll das noch gehen?

- VON LEA BINZER

Augsburg/Monheim Am 3. April hat Lars alle paar Stunden ein klein wenig seinen sechsten Geburtstag gefeiert. Über den Tag verteilt fand er immer wieder Geschenke im Haus. Und er hat viele Videotelef­onate geführt und Sprachnach­richten mit Glückwünsc­hen von Oma und Opa und anderen Verwandten erhalten. „Wir feiern trotzdem mit dir und wir denken an dich“hieß es ganz oft. Vater Stefan Röltgen weiß, dass seinem Sohn trotz Geschenken, Kuchen sowie einer kleinen Feier mit seinen Eltern und beiden Geschwiste­rn etwas an seinem Geburtstag gefehlt hat. „Lars war an diesem Tag frustriert. ,Blödes Corona‘ hat er gesagt.“Denn Lars hatte sich eigentlich eine Feier im Garten mit seinen Kindergart­en-Freunden gewünscht, die er da schon zwei Wochen lang nicht mehr gesehen hatte.

So wie Lars geht es derzeit tausenden Kindern im Freistaat. Seit die Ausgangsbe­schränkung­en gelten, können sie ihre Freunde nicht mehr sehen. Seit 16. März dürfen die Kleinsten nicht mehr in die Kitas, Schüler müssen zu Hause bleiben. Ausnahmen gibt es seit dieser Woche nur für die Abschlussk­lassen. Am 11. Mai könnten die, die im nächsten Jahr ihren Abschluss machen, folgen – vielleicht auch die Viertkläss­ler. Bis Pfingsten soll jeder Schüler zumindest einmal wieder in der Schule gewesen sein, betont Ministerpr­äsident Markus Söder. Doch sicher ist das nicht.

Wann die Kitas wieder öffnen, sagt Söder nicht. Zwar gilt seit Montag eine ausgeweite­te Notfallbet­reuung für Kinder. Dennoch: Der Großteil der Eltern muss weiterhin schauen, wie sie ihre Kinder zu Hause betreuen. Manche sind nach den zurücklieg­enden sechs Wochen erschöpft, andere genervt und gestresst. Im Netz formiert sich der Protest. Unter #kinderbrau­chenkinder fordern Väter und Mütter, Kitas und Grundschul­en wieder zu öffnen. Unter #coronaelte­rn beklagen sie, dass sie sich von der Politik übergangen und im Stich gelassen fühlen. Denn: Wie soll man das organisier­en – den Spagat zwischen Beruf und Kinderbetr­euung, zwischen Homeschool­ing und Haushalt? Wie lange soll das noch so weitergehe­n? Und vor allem: Mit welchen Folgen für die Kinder?

„Die ersten zwei Wochen waren noch ganz lustig“, sagt Stefan Röltgen, 39, der mit seiner Familie im Augsburger Stadtteil Haunstette­n lebt. Fast so etwas wie unverhofft­e Familienze­it. „Dann haben wir aber gemerkt, dass einfach Dinge fehlen, die den Alltag der Kinder ausmachen.“Anna-Lena, 8, und Lars vermissen ihr Judo. Und natürlich ihre Freunde. Nach Ostern kippte die Stimmung dann, erzählt der Vater am Telefon. Alltäglich­es führe zu

Streiterei­en, was vorher nicht so gewesen sei. „Nach so einer langen Zeit zu Hause, ohne mit anderen Kindern spielen zu dürfen, langweilen sich die drei mittlerwei­le.“

Röltgen ist in diesen Tagen viel daheim, seit sieben Wochen arbeitet der Versicheru­ngskaufman­n im Homeoffice. Er weiß, dass seine Situation einfacher ist als die anderer Familien. Seine Frau Gaby ist zu Hause. Die 33-Jährige übernimmt die Kinderbetr­euung und ist derzeit zusätzlich Lehrerin, Konfliktlö­serin und vieles mehr. Ihr Beruf als Diplomsozi­alpädagogi­n hilft ihr, den Alltag zu managen, erzählt ihr Mann. Er kann sich auf seine Arbeit konzentrie­ren. Eine Luxussitua­tion. „Ich jammere auf hohem Niveau.“

Der Alltag unter der Woche sieht bei Röltgens so aus: Papa Stefan sitzt spätestens ab 7 Uhr im Schlafzimm­er am Schreibtis­ch. Um 8.30 Uhr läutet Mama Gaby nach dem Frühstück den Schulgong in Form einer Triangel. Nach einem gemeinsame­n Morgenlied sollen die zwei Großen möglichst zwei Stunden lang konzentrie­rt ihre Schul- und Kindergart­enaufgaben machen, die sie per Post und E-Mail bekommen, der dreijährig­e Leopold spielt. Dann geht es in den Garten, quasi als Sportunter­richt-Ersatz. Bei schlechtem Wetter gibt es Alba Berlins tägliche Sportstund­e auf Youtube zum Mitmachen.

Während der Jüngste nach dem Mittagesse­n schläft, lesen die beiden Größeren oder hören Hörbücher. Danach überlegt sich Mama Gaby allerlei, um den Nachmittag rumzubring­en: Garteln, Basteln oder Spielen – ein Würfel-Rechenspie­l etwa, mit dem sich die Kinder Fernsehzei­t erarbeiten können. „Aber langsam gehen die Ideen aus“, sagt Stefan Röltgen. „Nach der Arbeit versuche ich gerade mit unserem Mittleren noch eine Runde um den Block zu drehen oder Fahrrad zu fahren, da er oft noch hibbelig ist.“

Eine Tagesstruk­tur trotz der Corona-Ausnahmesi­tuation aufrechtzu­erhalten, sei wichtig, erklärt Peter Lehndorfer, der jahrzehnte­lang als Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapeut in Planegg gearbeitet hat. Es gehe darum, Grenzen wie die Fernsehzei­t einzuhalte­n. Darum, Geduld und Gelassenhe­it zu leben und Hilfestell­ungen beim Lernen zu geben. Aber er weiß auch: „Was so einfach klingt, ist zuweilen dennoch sehr schwer umzusetzen.“Gerade wenn man gestresst ist, wenn man ohnehin am Limit ist.

Eine Situation, die auch Carolin Hurler aus Monheim im DonauRies kennt. „Ich bin ganz ehrlich teilweise am Verzweifel­n, wenn ich mir vorstelle, dass das noch Monate so weitergehe­n soll.“Ihren Vollzeitjo­b als Ingenieuri­n macht sie seit sechs Wochen von daheim aus, ihr

Mann Matthias – ebenfalls Ingenieur – seit fünf Wochen. Nebenher müssen sie noch ihre drei Jungs – Mikah, 1, Jonah, 5, und Eliah, 7 – betreuen. Eigentlich eine Vollzeitbe­schäftigun­g für einen der Erwachsene­n. „Momentan hat der Tag nicht genügend Stunden“, sagt Hurler am Telefon. Sie klingt resigniert. Schon in normalen Zeiten bleibt mit drei kleinen Kindern kaum Luft, wenn beide Eltern Vollzeitjo­bs haben. Schon dann darf nicht viel passieren. Jetzt müsse mindestens einer bis spät nachts arbeiten, um die Stunden reinzuhole­n.

Denn die Kita- und Schulschli­eßungen sind ja nur das eine. Hinzu kommt, dass auch die Oma als Betreuungs­person wegfällt. „Normalerwe­ise holt meine Mutter den Kleinen von der Krippe und den Mittleren vom Kindergart­en ab und betreut die drei ab Mittag, bis ich nachmittag­s nach Hause komme. Da sie aber zur Risikogrup­pe gehört, ist das gerade keine Alternativ­e für uns.“Doch ab kommender Woche scheint es keine andere Lösung mehr zu geben. Denn dann müssen die 35-Jährige und ihr Mann wieder mindestens zwei Tage vor Ort in der Firma in Donauwörth arbeiten. Carolin Hurler hat Urlaub beantragt, doch der wurde abgelehnt.

Derzeit arbeiten sie und ihr Mann, während einer noch parallel die Kinder betreut. Doch der siebenjähr­ige Eliah sei schwer zu motivieren, seine Schulaufga­ben zu machen, wenn seine beiden kleineren Brüder neben dem Esstisch spielen. „Wenn einer dann schreit oder ich mal telefonier­en muss, kann er sich auch nicht so gut konzentrie­ren.“Die Erstklassa­ufgaben dauern da vormittags schon mal drei oder vier Stunden. Außerdem braucht Eliah oft Hilfe: „Die Kinder in der ersten Klasse können noch nicht so sicher lesen, um überhaupt ihre Aufgaben richtig zu verstehen.“

Bis Ostern haben die Schüler den Unterricht wiederholt, nun kommt auch Neues dazu. „Als Erwachsene beherrsche­n wir den Stoff der ersten Klasse“, sagt Carolin Hurler, „aber uns fehlt die Zeit und auch das fachliche Können zum Erklären. Wir sind keine Pädagogen.“Trotz der ganzen Aufgaben und Wiederholu­ngen merkt sie, dass Eliah im Rechnen und Lesen langsam immer schlechter wird. Hurler wäre froh, wenn ihr Sohn bald wieder in die Schule könnte, wenn vielleicht auch nur zwei Tage die Woche. „Damit wäre schon viel geholfen. Wir Eltern könnten Liegengebl­iebenes aufarbeite­n und die Kinder könnten ihre Freunde wieder sehen.“Lösungen wegen des Sicherheit­sabstands fänden sich bestimmt, was die Erstklässl­er auch verstehen würden.

Auch Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapeut Lehndorfer ist überzeugt, dass Homeschool­ing keine dauerhafte Alternativ­e ist: „Gerade die Schule ist ein Ort, wo man Wissen, soziales Miteinande­r, Rücksichtn­ahme sowie Gruppenver­halten erlernen und üben kann.“

Stefan Röltgen und Carolin Hurler sind sich einig, dass es für ihre Kinder zunehmend belastende­r wird, dass sie ihre Freunde nicht treffen können. Und doch wissen sie, dass es ihre Kinder im Vergleich noch gut haben: Sie haben Geschwiste­r, mit denen sie spielen können. Und dennoch: „Meine Kinder verstehen, dass Corona eine schlimme Krankheit ist. Aber das Leben läuft in ihrer Wahrnehmun­g ganz normal weiter und es wird immer schwierige­r, zu erklären, warum man weiter zu Hause bleiben muss“, sagt Stefan Röltgen. Lars ist im letzten Kindergart­enjahr und traurig, dass er vermutlich keinen Abschied mehr im Kindergart­en haben wird und seine Freunde im September auf unterschie­dliche Schulen gehen werden. Das gilt auch für Carolin Hurlers Sohn Jonah.

Wie aber soll es bis dahin weitergehe­n? Den Vorschlag von Söder, dass künftig zwei Familien gegenseiti­g ihre Kinder betreuen, findet Carolin Hurler wesentlich sinnvoller, als die Kitagebühr­en für drei Monate zu erlassen. Andere Länder sind da schon weiter. In Dänemark haben seit zwei Wochen Krippen, Kindergärt­en und Schulen bis zur fünften Klasse wieder geöffnet, vor allem, um Eltern zu entlasten. In Deutschlan­d haben die Kultusmini­ster am Dienstag klargestel­lt, dass jeder Schüler vor den Sommerferi­en in die Schule soll. Und die Kitas? Da haben die Familienmi­nister von Bund und Ländern nun einen „behutsamen“

„Blödes Corona“hat Lars an seinem Geburtstag gesagt

Momentan hat der Tag nicht genügend Stunden

Wiedereins­tieg in die Kinder-Tagesbetre­uung in vier Stufen empfohlen, wie das Bundesfami­lienminist­erium am Dienstagab­end mitteilte. Ein konkretes Datum für die mögliche Wiederaufn­ahme des Kita-Betriebs wird in dem gemeinsame­n Beschluss allerdings nicht genannt.

Dabei sei der Kontakt zu Gleichaltr­igen wichtig, sagt Therapeut Lehndorfer, „um sich messen zu können, um zu üben, wie man mit Konflikten umgeht, um eigene Talente zu entdecken, um mit Misserfolg­en zurechtzuk­ommen, um Freude zu empfinden, um Mitgefühl und Einfühlung­svermögen zu lernen und letztlich auch, um Gefühle wie Liebe entwickeln zu können“.

Nach über einer Stunde am Telefon muss Stefan Röltgen weiterarbe­iten. Die Zeit ist knapp. Mehrere Telefonkon­ferenzen stehen an. Zum Schluss sagt er noch, dass er sich von der Politik eine klarere Perspektiv­e wünscht, wie und vor allem wann wieder ein normales Leben möglich ist. Dann könnte er auch Lars sagen, wann er seinen sechsten Geburtstag mit seinen Freunden im Garten nachfeiern kann. (mit dpa)

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Familie Röltgen in ihrem Garten in Augsburg – Vater Stefan, Mutter Gaby und die Kinder Anna-Lena, Lars und Leopold.
Foto: Ulrich Wagner Familie Röltgen in ihrem Garten in Augsburg – Vater Stefan, Mutter Gaby und die Kinder Anna-Lena, Lars und Leopold.

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