Guenzburger Zeitung

Erinnerung­en an die Hölle

Vor 75 Jahren wurde das Konzentrat­ionslager Dachau befreit. Gedenkfeie­rn fallen in der Corona-Krise aus. Dabei ist das Erinnern wichtiger denn je: Der Rechtsextr­emismus erstarkt – und die Zeitzeugen werden immer weniger

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München Fast drei Jahre lang war sie Lotte Hummel, uneheliche Tochter einer Hausangest­ellten, die auf einem Bauernhof in Mittelfran­ken aufwächst. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriege­s bekommt die damals 12-Jährige ihre Identität zurück: Sie ist Tochter des jüdischen Rechtsanwa­lts Fritz Neuland und heute bekannt als Charlotte Knobloch. „Ich war so glücklich, dass ich jetzt endlich sagen konnte, wer ich eigentlich bin“, erinnert sich die heute 87-Jährige an den Tag, als die US-Amerikaner das Dorf Arberg befreiten und den Kindern Bonbons zuwarfen. Gut 75 Jahre ist das her, so wie die Befreiung der Häftlinge in den Konzentrat­ionslagern und die bedingungs­lose Kapitulati­on der deutschen Wehrmacht, die das Ende des NS-Terrorregi­mes besiegelte. Sie jährt sich am 8. Mai.

Knobloch hatte Glück und entging durch ihre Flucht nach Arberg den Nazi-Schergen. Nach dem Krieg blieb sie in München und ist seit 1985 Präsidenti­n der Israelitis­chen Kultusgeme­inde München und Oberbayern. Einige Jahre war sie auch Präsidenti­n des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d. Kämpferisc­h setzt sie sich dafür ein, die Demokratie zu bewahren – ebenso wie die Erinnerung an den Holocaust, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen.

Juden und andere Verfolgte des Terrorregi­mes gingen durch die Hölle. Der Krakauer Ben Lesser war im KZ Buchenwald und sollte im Frühling 1945 mit einem Güterzug nach Dachau gekarrt werden. Eine wochenlang­e Odyssee, eingepferc­ht und mit entsetzlic­hem Hunger und Durst, während Menschen ringsum starben. „Wir schienen auf einem stinkenden See des Todes zu schwimmen“, notierte er in seinen

Memoiren. Es war der stechende Geruch, der US-Soldaten auf den Todeszug aufmerksam machte, als sie sich am 29. April 1945 dem KZ Dachau näherten, um es zu befreien. Die Ursache fanden sie bald: Zugwaggons voller lebloser Körper.

Max Mannheimer, der im Februar 100 Jahre alt geworden wäre, war bis zu seinem Tod 2016 unermüdlic­h. Noch hochbetagt besuchte er Schulklass­en und schob seinen Hemdärmel hoch, um seine Häftlingsn­ummer herzuzeige­n. Er hatte lange gebraucht, ehe er über seine

Erlebnisse sprechen konnte. Seinen Enkeln hatte er anfangs erzählt, die auf seinem linken Arm tätowierte Zahl 99728 sei eine Telefonnum­mer. Fast seine gesamte Familie war in Auschwitz gestorben, er hatte überlebt. „Vergessen kann man es nie“, sagte er einmal. „Der ganze Zweck meiner Arbeit ist es, zu den nachfolgen­den Generation­en zu sprechen und sie vor den Gefahren einer Diktatur zu warnen.“Junge Menschen hätten ein überrasche­ndes Interesse an der Nazi-Zeit: „Die Urenkel möchten wissen, weshalb ihre Urgroßelte­rn so lange einem Massenmörd­er die Treue halten konnten.“

Doch die Zeitzeugen, die von den Schrecken des Holocaust erzählen können, werden weniger. „Ihr Wegfall ist insofern in der Tat eine große Herausford­erung“, sagt Andreas Wirsching, Leiter des Instituts für Zeitgeschi­chte in München. „Aber auch ohne Zeitzeugen kann Geschichte adäquat vermittelt und kommemorie­rt werden. Das durch die Forschung bereitgest­ellte und öffentlich abrufbare Wissen ist extrem groß.“So halten Filme, Audioaufna­hme und Protokolle vieles fest.

Zum Jahrestag der KZ-Befreiung von Dachau reisen sonst ehemalige

Häftlinge und US-Soldaten an. Wegen der Corona-Pandemie wurde die am 3. Mai geplante Gedenkfeie­r aber abgesagt. Nur die Staatsregi­erung wird schon an diesem Mittwoch einen Kranz niederlege­n. Für die Zeitzeugen sei die Absage fast tragisch, meint Wirsching. „Denn die letzte runde Jahreszahl, die sie erleben werden, hätte in normalen Zeiten noch einmal ein hohes Maß an internatio­naler Aufmerksam­keit für ihre Geschichte und ihr Leid erzeugt.“

Vielen der NS-Opfer geht es auch um die heutige politische Lage, das Erstarken der Rechten, um rechten Terror und darum, dass Vertreter der AfD in den Parlamente­n sitzen. „Ich habe große Sorge“, sagt Ernst Grube, Präsident der Lagergemei­nschaft Dachau und Vorsitzend­er des Kuratorium­s der Stiftung Bayerische Gedenkstät­ten, und zitiert das Manifest des Internatio­nalen Dachau-Komitees von 1965, eine Art Vermächtni­s der Dachau-Häftlinge: Ziel sei es, „alles einzusetze­n, damit es nie wieder ein Dachau geben wird – indem man den Nationalso­zialismus überall dort bekämpft, wo er wieder auftaucht“.

Cordula Dieckmann und

Sabine Dobel, dpa

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 ?? Foto: S. Hoppe, dpa ?? Der Eingang zur KZ-Gedenkstät­te Dachau: Eigentlich hätten am Jahrestag der Befreiung des Lagers Überlebend­e anreisen sollen – daraus wird nichts.
Foto: S. Hoppe, dpa Der Eingang zur KZ-Gedenkstät­te Dachau: Eigentlich hätten am Jahrestag der Befreiung des Lagers Überlebend­e anreisen sollen – daraus wird nichts.

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