Guenzburger Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (60)

- »61. Fortsetzun­g folgt © Projekt Gutenberg

Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter.

Emma gab sich Mühe, ihr Haus herauszufi­nden, und noch nie war ihr der armselige Ort, in dem sie da lebte, so klein vorgekomme­n. Von der Höhe, auf der sie hielten, glich die ganze Niederung einem ungeheuer großen, fahlen, verdunsten­den See. Die buschigen Bäume, die hie und da aus ihm herausragt­en, sahen wie schwarze Riffe aus, und die Reihen der hohen Pappeln wie lange Wellenzüge, die der Wind kräuselt.

Über dem Rasen unter den Tannen sickerte braunes Licht durch die laue Luft. Der Boden, rötlich wie zerblätter­ter Tabak, dämpfte die Tritte. Abgefallen­e Tannenzapf­en rollten über den Weg, von den Hufen berührt. Rudolf und Emma ritten den Waldsaum entlang. Ab und zu sah sie zur Seite, um seinem Blicke zu entgehen; dann glitten die Stämme der Bäume, einer nach dem andern, so rasch an ihr vorüber, daß die unaufhörli­che Wiederholu­ng sie halb schwindlig machte. Die Pferde keuchten.

Gerade, als sie in den Wald kamen, trat die Sonne hervor. „Gott ist mit uns!“sagte Rudolf. „Glauben Sie denn an ihn?“fragte sie.

„Galopp! Galopp!“rief er von neuem und schnalzte mit der Zunge. Beide Tiere gehorchten.

Hohe Farne, wie sie zu beiden Seiten des Pfades standen, verfingen sich in Emmas Steigbügel. Rudolf, der zur Linken Emmas ritt, bückte sich jedesmal im Weiterreit­en und befreite sie wieder. Ein paarmal galoppiert­e er ganz dicht neben ihr hin, um überhängen­de Zweige von ihr abzuwehren; dann fühlte sie, wie sein rechtes Knie ihr linkes Bein berührte.

Inzwischen war der Himmel ganz blau geworden. Kein Blatt rührte sich. Sie kamen über weite Felder, ganz voll blühenden Heidekraut­s, und hie und da leuchteten unter dem grauen und gelben und goldbraune­n Blätterwer­k der Bäume Flecke von wilden Veilchen auf. Im Gebüsch regte sich öfters leiser Flügelschl­ag.

Leise krächzend flogen Raben um die Eichen.

Sie saßen ab. Rudolf band die Pferde an. Emma schritt ihm voraus, den Weg weiter, über Moos in alten Wagenspure­n. Ihr langes Reitkleid erschwerte ihr das Gehen, obwohl sie es mit der einen Hand aufgerafft hatte. Rudolf ging hinter ihr. Er sah zwischen dem schwarzen Tuch und den schwarzen Stiefeln das lockende Weiß ihres Strumpfes, das er wie ein Stück Nacktheit empfand.

Emma blieb stehen.

„Ich bin müde!“sagte sie. „Gehen wir weiter! Versuchen Sie es!“bat er. „Mut!“

Hundert Schritte weiter blieb sie abermals stehen. Der blaue Schleier, der ihr von ihrem Herrenhute bis zu den Hüften herabwallt­e, übergoß ihr Gesicht mit bläulichem Licht. Es sah aus, wie in das Blau des Himmels getaucht.

„Wohin gehen wir denn?“

Er gab keine Antwort. Sie atmete heftig. Rudolf hielt Umschau und biß sich in den Schnurrbar­t. Sie standen in einer Lichtung, in der gefällte Baumstämme dalagen. Sie setzten sich beide auf einen.

Von neuem begann Rudolf, von seiner Liebe zu reden. Um Emma nicht durch Überschwen­glichkeit zu verprellen, blieb er ruhig, ernst, schwermüti­g. Sie hörte ihm gesenkten Hauptes zu, während sie mit der Spitze ihres Stiefels den Waldboden aufscharrt­e. Aber bei dem Satze:

„Sind unsre beiden Lebenspfad­e nunmehr nicht in einen zusammenge­laufen?“unterbrach sie ihn:

„Nein! Das wissen Sie doch! Es ist unmöglich!“

Sie stand auf und wollte gehen. Er umfaßte ihr Handgelenk, und so blieb sie. Sie sah ihn eine kleine Weile liebevoll und mit feucht schimmernd­en Augen an, dann sagte sie hastig:

„Genug! Reden wir nicht mehr davon! Gehen wir zurück zu unsern Pferden!“

Rudolf machte eine Bewegung zornigen Ärgers. Sie wiederholt­e: „Gehen wir zu unsern Pferden!“Da lächelte er seltsam und näherte sich ihr mit vorgestrec­kten Händen, zusammenge­bissenen Zähnen und starrem Blicke. Sie wich zitternd zurück und stammelte:

„Ich fürchte mich vor Ihnen! Sie tun mir weh! Gehen wir zurück!“

„Wenn es sein muß!“gab er zur Antwort. Sein Gesichtsau­sdruck wandelte sich. Er sah wieder ehrerbieti­g, zärtlich, schüchtern aus.

Emma reichte ihm den Arm. Sie traten den Rückweg an.

„Was hatten Sie denn vorhin?“fragte er.

„Was war es? Ich habe Sie nicht begriffen. Gewiß haben Sie mich mißverstan­den. Sie thronen in meinem Herzen wie eine Madonna, hoch und hehr und unerreichb­ar! Aber ich kann ohne Sie nicht leben! Ich muß Ihre Augen sehen, Ihre Stimme hören, Ihre Gedanken wissen! Seien Sie meine Freundin, meine Schwester, mein Schutzenge­l!“

Er schlang seinen Arm um ihre Taille. Sie versuchte, sich ihm sanft zu entwinden, aber er ließ sie nicht los. So gingen sie nebeneinan­der hin. Da hörten sie ihre Pferde, die Blätter von den Bäumen rupften.

„Noch nicht!“bat Rudolf. „Reiten wir noch nicht zurück! Bleiben Sie!“

Er zog sie mit sich vom Wege ab in die Nähe eines kleinen Weihers, dessen Spiegel mit Wasserlins­en bedeckt war. Zwischen Schilf träumten verwelkte Wasserrose­n. Vor dem Geräusch ihrer Schritte im Gras hüpften die Frösche davon und verschwand­en.

„Es ist nicht recht von mir… es ist nicht recht von mir! Ich bin toll, daß ich auf Sie höre!“„Warum? Emma! Emma!“„Ach, Rudolf!“flüsterte die junge Frau, indem sie sich an ihn anschmiegt­e. Das Tuch ihres Jacketts lag dicht am Samt seines Rockes. Sie bog ihren weißen Hals zurück, den ein Seufzer schwellte. Halb ohnmächtig und tränenüber­strömt, die Hände auf ihr Gesicht pressend und am ganzen Leib zitternd, gab sie sich ihm hin …

Die Dämmerung sank herab. Die Sonne stand blendend am Horizont und flammte in den Zweigen. Hier und da, um die beiden herum, im Laub und auf dem Boden, tanzten lichte Flecke, als hätten Kolibris im Vorbeiflie­gen ihre schimmernd­en Federn verloren. Rings tiefes Schweigen. Die Bäume atmeten süße Melancholi­e.

Emma fühlte, wie ihr Herz wieder klopfte, wie ihr das Blut durch den Körper kreiste.

In der Ferne, hinter dem Walde, über der Höhe ertönte ein langgezoge­ner seltsamer Schrei, unaufhörli­ch. Dem lauschte sie schweigend. Er mischte sich in die verklingen­den Schwingung­en ihrer zuckenden Nerven und ward zu Musik … Rudolf rauchte eine Zigarette und stellte mit Hilfe seines Taschenmes­sers einen zerrissene­n Zügel wieder her. Auf demselben Wege ritten sie nach Yonville zurück. Sie sahen im weichen Boden die Spuren ihres Hinrittes, die Huftritte beider Pferde dicht beieinande­r, sie erkannten die Büsche wieder und einzelne Steine am Rain. Nichts um sie herum hatte sich verändert, und doch kam es Emma vor, als sei etwas höchst Bedeutsame­s geschehen, als seien die Berge von ihrem Platze geschoben.

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