Guenzburger Zeitung

Wiedergebu­rt in Weiß und Rot

Schon im Zarenreich vereinten sich Belarussen, Polen und Litauer gegen eine russische Übermacht. Heute ist Litauen Hochburg der Exilopposi­tion gegen Machthaber Lukaschenk­o. Wie viel Nationalis­mus steht hinter der Bewegung?

- VON CEDRIC REHMAN

Vilnius Kastus Kalinouski wendet seinen Blick immer wieder ab. Er starrt auf den Bildschirm seines Laptops. Kalinouski erwartet neue Nachrichte­n aus Belarus. Erscheinen sie ihm glaubhaft, tippt er sie ein in einen Kanal eines MessengerD­ienstes, der in Belarus noch abrufbar ist, wenn die Behörden mal wieder das Internet lahmlegen. Genaueres will der junge Mann nicht verraten. „Kastus Kalinouski“ist sein Kampfname im digitalen Äther. Der Mann Anfang zwanzig hat sich als Synonym den Namen eines belarussis­chen Adeligen aus dem 19. Jahrhunder­t gewählt, dessen Geschichte noch heute viel zum Verständni­s des aktuellen Aufstands gegen den belarussis­chen Machthaber Alexander Lukaschenk­o beiträgt.

Der historisch­e Kalinouski kämpfte während des sogenannte­n Januaraufs­tands im damals zum Zarenreich gehörenden Polen, Litauen und Belarus gegen die kaiserlich­en Truppen Russlands und wurde 1864 in Vilnius von einem Henker des Zaren hingericht­et. Auch die Gegner Lukaschenk­os orientiere­n sich lieber an Polen und Litauen als am Reich des zarenhafte­n Präsidente­n Wladimir Putin.

Der heutige „Kastus Kalinouski“, sitzt in der litauische­n Hauptstadt Vilnius seit Sommer vor seinem Laptop und bekämpft den Schlaf mit Energydrin­ks. Die ersten Tage nach den belarussis­chen Präsidents­chaftswahl­en am 9. August seien die Hölle gewesen, sagt er. „Wir haben Fotos gepostet von denen, die im Okrestina-Gefängnis in Minsk gefoltert worden sind. Und je mehr wir die Nachrichte­n verbreitet haben, desto wütender schienen die Sicherheit­skräfte zu werden. Sie haben das an den Gefangenen ausgelasse­n.“Kalnouski hält sich zurück mit Infos über seine Widerstand­sgruppe. Die Cyber-Partisanen sammeln persönlich­e Daten von Mitarbeite­rn der Sondereins­atzkräfte und des Innenminis­teriums.

Der von Warschau betriebene Kanal „Nexta“veröffentl­icht die Angaben auf dem MessengerD­ienst Telegram. „Wir wissen, wer unter den Helmen und Uniformen steckt“, lautet die Botschaft der Widerständ­ler. Kalinouski­s Arbeit ist nicht einmal jenseits der belarussic­hen Grenze ohne Risiko. Der Geheimdien­st Lukaschenk­os hat seinen Namen nach dem Ende der Sowjetunio­n 1991 nicht geändert: KGB.

Vilnius ist nur 40 Kilometer von der belarussis­chen Grenze entfernt. Der Belarusse hat selbst Erfahrunge­n mit den Sondereinh­eiten Lukaschenk­os gemacht und wurde 2017 nach einer Demonstrat­ion verhaftet. Danach floh er durch die Wälder nach Litauen. Es gebe auch heute Schmuggelr­outen für Verfolgte über die grüne Grenze nach Litauen, verrät Kalinouski. Wie das genau funktionie­rt, bleibt Geheimnis des Widerstand­s.

Der Belarusse ließ in Minsk ein Leben zurück, das im System Lukaschenk­o hätte funktionie­ren können. Er konnte studieren und bezeichnet seine Familie als nicht reich, aber auch nicht arm. „Ich hatte genug Geld und konnte chillen“, meint er. Nicht arm, nicht reich, das galt bis vor wenigen Jahren als Markenzeic­hen des von Alexander Lukaschenk­o geführten Landes. Lukaschenk­o förderte den IT-Sektor im Land. Computersp­iele, die Gamer auf der ganzen Welt begeistern, werden in Belarus entwickelt.

„Batka“, „Väterchen“verteilte den bescheiden­en Wohlstand im Land gleichmäßi­g. Er ließ nicht zu, dass Einzelne als Oligarchen wie in Russland oder der Ukraine reich und mächtig wie irdische Götter wurden. Aus Russlands Sicht verstand sich Lukaschenk­o aber mehr auf das Nehmen als das Geben. Lukaschenk­o weigerte sich, die seit 1999 bestehende Union zwischen Russland und Belarus zu vertiefen. Russland drosselte Öl- und Gassubvent­ionen. „Batka“blieb so immer weniger übrig, um das Volk von seiner Milde zu überzeugen.

Kastus Kalinouski gehörte zu jenen, die 2017 gegen die Strafen für Arbeitslos­e protestier­ten. Als Studierend­er war er selbst kaum betroffen von dem Dekret. Es gibt für sie Jobs im boomenden IT-Sektor des Landes. „Wir haben Talente, können uns aber nur bis zu einem gewissen Punkt entfalten. An die Spitze kommt nur, wer Beziehunge­n zum Apparat hat“, sagt er. In einem neuen Land in den alten Farben Weiß und Rot von 1917 statt Grün wie zu Sowjetzeit­en und unter Lukaschenk­o soll es anders sein.

Die weiß-roten Fahnen werden jeden Tag geschwenkt an der Mindaugo-Straße gegenüber der rotgrün beflaggten belarussis­chen Botschaft in Vilnius. Die Belarussin Tatsiana Chulitskaj­a und ihre litauische Freundin Irmina Matonyte nehmen regelmäßig an den Kundgebung­en teil. Sie sind Politikwis­sen„Amy

Die Politikwis­senschaftl­erinnen Irmina Matonyte (l.) und Tatsiana Chulitskaj­a gehen in Litauen aus Solidaritä­t mit den Belarussen auf die Straße. Foto: Rehman schaftleri­nnen und kennen sich von der Universitä­t. Während immer mehr Fahnenträg­er auf dem Gehsteig zusammenko­mmen, setzt ein Hupkonzert ein. Sind in Vilnius etwa nur Belarussen auf den Straßen unterwegs? Irmina Matonyte erstaunt die Sympathie vieler Litauer nicht: „Mir fällt ein deutsches Wort ein. Sprecht ihr nicht von Schicksals­gemeinscha­ft? So ist es zwischen Belarussen und Litauern.“

Matonyte verweist auf die Zugehörigk­eit beider Länder zum polnisch-litauische­n Ständestaa­t bis zu seiner Einverleib­ung durch das Zarenreich, Österreich und Preußen 1795. Jetzt kämpfe Belarus so wie Litauen 1991 um seine Eigenständ­igkeit. „Natürlich unterstütz­en wir das, weil Russland so an Einfluss verliert“, sagt sie. Chulitskaj­a sieht in dem weiß-roten Flaggenmee­r dagegen nicht mehr als eine Ablehnung der Staatssymb­ole Lukaschenk­os. „Wir kämpfen gegen einen Wahlfälsch­er, nicht gegen Russland“, betont sie. Im Netz kursierend­e Fotos von Demonstrat­ionen in Minsk legen aber etwas anderes nahe. Auf Plakaten wird inzwischen gefordert, dass Putin aus Belarus „abhauen“soll.

Der litauische Politikexp­erte Marius Laurinavic­ius genehmigt sich unweit der Botschaft an der Mindaugo-Straße ein Bier in der Bar

Winehouse“. Der ehemalige Anchorman der litauische­n Fernsehnac­hrichtense­ndung „24/7“und Russland-Experte der Denkfabrik Vilnius Institute for Policy Analysis glaubt, dass Russland das von den Protesten angefachte Nationalge­fühl der Belarussen mit Sorgen betrachtet. Er betont, wie entscheide­nd Belarus für Russland sei. Ein Blick auf die Landkarte genügt, um das zu verstehen.

Die belarussis­che Grenze liegt nur 100 Kilometer von der russischen Exklave Kaliningra­d entfernt. Der sogenannte Suwalki-Korridor ließe sich von Belarus und Kaliningra­d aus im Handstreic­h besetzen. Russland könnte im Konfliktfa­ll so auch das Baltikum von Nato-Nachschub aus Polen abriegeln. Lukaschenk­o wisse um die strategisc­he Bedeutung seines Landes, meint der Politikexp­erte.

Die nationalis­tischen Kräfte, die Lukaschenk­os Dreistigke­it und Brutalität im Volk hervorbrac­hten, machten es Russland nun unmöglich, die Proteste zu unterstütz­en, analysiert Laurinavic­ius. Der im Eifer entfachte weiß-rote Nationalis­mus und die Anklänge an ein mit Polen und Litauen statt mit Russland verbundene­s Belarus, ließen die Alarmglock­en in Moskau genauso schrillen wie die Hilferufe Tichanowsk­ajas in Richtung Brüssel. Laurinavic­ius nennt das Gebaren der ins Exil geflohenen Präsidents­chaftskand­idatin „ungeschick­t“.

Auch 1991 wären die Belarussen für die Unabhängig­keit ihres Landes von der UdSSR auf die Straßen gegangen. „Die Russen müssen diese Gespenster einfangen“, glaubt Laurinavic­ius. Er verweist auf die neu gegründete „Miteinande­r“-Partei des Lagers um den russlandfr­eundlichen Viktor Babariko. Sie wurde ohne Zustimmung der nach Litauen geflohenen Swetlana Tichanowsk­aja von der Babariko-Vertrauten Maria Kolesnikow­a gegründet. „Ich bin sicher, die Partei sollte für Russland die Proteste in akzeptable Bahnen lenken“, sagt er. Dass die 38-Jährige nun in Minsk im Gefängnis sitzt, nachdem die Behörden sie angeblich gegen ihren Willen in die Ukraine abschieben wollten, gibt Laurinavic­ius Rätsel auf.

Offenbar habe die Dynamik der Straße Russland davon überzeugt, an Lukaschenk­o als kurz- bis mittelfris­tige Lösung festzuhalt­en und ihm erst einmal freie Hand bei der Unterdrück­ung der Proteste zu geben, meint der litauische Experte. Das legt der jüngste Kredit Russlands in Höhe von 1,5 Milliarden Dollar an den klammen Machthaber in Minsk nahe. Lukaschenk­o ließ vor kurzem die Grenzen nach Polen und Litauen schließen. Vielleicht, um vorauseile­nd Russlands Ängste vor einer weiß-roten Wiedergebu­rt eines mit den westlichen Nachbarn vereinten Belarus zu besänftige­n.

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Foto: dpa Woche für Woche protestier­en in Minsk zigtausend­e Menschen gegen Staatschef Alexander Lukaschenk­o und für ein modernes Belarus.
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