Guenzburger Zeitung

Schweizer Spiel mit der Angst

Die rechtskons­ervative Volksparte­i will am Sonntag den Zuzug von EU-Ausländern beenden. Die Regierung warnt davor, dass ein Ende der Freizügigk­eit verheerend­e Folgen für den Handel hätte. Isoliert sich Helvetien?

- VON JAN DIRK HERBERMANN

Genf Ein vielleicht zehn Jahre altes Mädchen erzählt in einem Video aus ihrem schönen Leben – und ihrem schönen Land. „Ich sehe Berge groß und stark“, schwärmt die Kleine. Sie nimmt den Zuschauer mit in eine Schweiz aus dem Bilderbuch. Bäche, Wiesen, Wälder. Dann kommt sie in eine Großstadt. Hochhäuser, Verkehr, Lärm, Müll, Stress. Das Mädchen klagt: „Immer mehr wollen in die Schweiz. Und das, obwohl wir gar keinen Platz haben für alle.“In Hintergrun­d stehen zwei kräftige junge Männer. Sie sind dunkelhäut­ig. Der Clip schürt Furcht vor den Fremden – und richtet sich an die Schweizer Stimmbürge­r. Die sind am Sonntag aufgerufen, in einer Volksabsti­mmung abzustimme­n, ob die Freizügigk­eit mit der EU aufgehoben werden soll.

Begrenzung­sinitiativ­e laut die Forderung – und dahinter steht die rechtskons­ervative Volksparte­i SVP. Ihr Ziel ist es, dass Bern und die EU innerhalb eines Jahres das Abkommen zur Personenfr­eizügigkei­t außer Kraft setzen sollen. Gelingt das nicht, muss die Schweiz das

Abkommen innerhalb von weiteren 30 Tagen kündigen.

Das Freizügigk­eitsabkomm­en der Schweiz mit der EU trat am 1. Juni 2002 in Kraft. Danach dürfen EU-Bürger in der Schweiz leben, arbeiten und studieren. Das Gleiche trifft auf Schweizer in der EU zu. „Die Personenfr­eizügigkei­t ist aber nicht bedingungs­los: Wer sich in der Schweiz aufhalten will, muss einen gültigen Arbeitsver­trag haben oder selbststän­dig sein“, forderte die Schweizer Regierung. „Nichterwer­bstätige müssen über ausreichen­de finanziell­e Mittel verfügen und umfassend gegen Krankheit und Unfall versichert sein.“Als Antwort auf die Corona-Pandemie hatte Helvetien die Personenfr­eizügigkei­t vorübergeh­end eingeschrä­nkt – und hat jetzt die Forderung auf dem Tisch, die Zeit dauerhaft auf vor 2002 zurückzudr­ehen.

Falls die Eidgenosse­n am Sonntag dem Plan zustimmen, würde das kleine Land in der Mitte Europas auf einen Konfrontat­ionskurs mit der großen EU einschwenk­en. Die Regierung, das Parlament, fast alle Parteien und Wirtschaft­sverbände warnen deshalb eindringli­ch vor einem Ja. Dieser Widerspruc­h spornt die Hardliner in der SVP jedoch geradezu an. „Mit dieser Initiative sind wir wieder Chef im eigenen Land“, verspricht der SVP-Abgeordnet­e und Verleger der Weltwoche, Roger Köppel.

In der Schweiz leben derzeit rund 8,6 Millionen Menschen, darunter rund 2,2 Millionen Ausländer. Mehr als 1,4 Millionen der Ausländer stammen aus einem EU-Land oder Norwegen, Island und Liechtenst­ein. Allerdings halbierte sich die

Nettozuwan­derung aus Europa in die Schweiz in den vergangene­n sieben Jahren: 2019 wanderten nur noch rund 32000 Menschen mehr nach Helvetien ein als aus.

Doch die Strategen der SVP spielen weiter mit der Angst. „Lassen Sie Ihre Haustür sperrangel­weit offen, damit jeder hereinkomm­en kann?“lautet die rhetorisch­e Frage. In der Welt der SVP sind die zugezogene­n Menschen für fast alles Schlimme verantwort­lich: überfüllte Straßen, Staus, steigende Mieten, Arbeitspla­tzverlust, Lohndruck. Und sie würden die Schweiz unsicher machen. „Migrantinn­en und Migranten sind vor allem bei schweren Gewalt- und Sexualdeli­kten als Täter massiv übervertre­ten“, heißt es in den Broschüren der Begrenzung­sinitiativ­e. Die Personenfr­eizügigkei­t verhindere die „Ausschaffu­ng“kriminelle­r EU-Ausländer.

Vor allem aber bezichtige­n die Initiatore­n die EU-Ausländer der „Plünderung“der Schweizer Sozialkass­en. So berichtet die SVP-Abgeordnet­e Martina Bircher von einem deutschen Bodenleger, der entlassen wurde und jetzt mit seiner Frau vom Sozialstaa­t lebe: „Es war klar: Das deutsche Ehepaar hatte schlicht keine Lust zu arbeiten.“Noch schlechter als die Deutschen schneiden bei der SVP fast nur die Osteuropäe­r ab.

Auf die brachiale Kampagne reagiert die Regierung, der Bundesrat, mit Sachlichke­it. „Jetzt ist nicht der Moment für Experiment­e“, betont Justizmini­sterin Karin Keller-Sutter mit Blick auf die Corona-Pandemie. Im Fall eines Ja zur Begrenzung­sinitiativ­e am Sonntag wäre, so warnt die Ministerin, die Kooperatio­n Schweiz – EU „akut gefährdet“.

Denn das Freizügigk­eitsabkomm­en gehört zu sieben bilaterale­n Abkommen, die zwischen der Schweiz und Brüssel gelten. Diese Abkommen „ermögliche­n der Schweizer Wirtschaft einen direkten Zugang zum europäisch­en Markt“, heißt es aus der Regierung. „Wird das Freizügigk­eitsabkomm­en gekündigt, so treten automatisc­h auch die anderen sechs Abkommen außer Kraft.“Diesen Automatism­us kennen die Schweizer als Guillotine­Klausel. Greift die Klausel, dürfte der wirtschaft­liche Schaden für die Exportnati­on Schweiz verheerend sein: Die EU ist mit Abstand größter Handelspar­tner der Schweiz.

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Foto: Imago Images Die Schweizer stimmen am Sonntag über das seit 2002 geltende Zuzugsrech­t für EU-Bürger ab.

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