Guenzburger Zeitung

Schwedisch­e Erklärunge­n

Anders als der Rest Europas erlebt Schweden keine zweite Corona-Welle. Der oberste Virusbekäm­pfer sieht sich bestätigt. Zu den hohen Todesraten liefert er eine umstritten­e Theorie

- VON ANDRÉ ANWAR

Stockholm Mehrere Länder Europas – auch Deutschlan­d – werden von einer zweiten Coronawell­e eingeholt. Schweden jedoch, für seinen Sonderweg ohne Lockdown so kritisiert wie gefeiert, bleibt bislang von einem starken Wiederauff­lammen der Krankheit Covid-19 verschont. Die Infektions­zahlen in dem skandinavi­schen Land sind beständige­r als anderswo.

Allerdings kommt die schwedisch­e Statistik von einem hohen Niveau: Obwohl die Kurve wochenlang fast nur nach unten zeigte, liegt Schweden bei der 7-Tages-Infektions­rate derzeit bei etwa demselben Wert wie in Deutschlan­d. Nach Angaben der Johns-Hopkins-Universitä­t infizierte­n sich in den vergangene­n sieben Tagen in der Bundesrepu­blik rund 15 Menschen pro 100 000 Einwohner mit Covid-19, in Schweden waren es 17 im Schnitt.

Anders Tegnell, Staatsepid­emiologe und Architekt des schwedisch­en Sonderwegs, sieht einen Grund für das Ausbleiben einer deutlichen zweiten Welle in der Immunität unter Schweden. Es sei schwer, exakte Werte für die Herdenimmu­nität zu ermitteln, sagte Tegnell unserer Redaktion. „Aber wir glauben, zwischen 20 und 40 Prozent Immunität in der Bevölkerun­g, etwa in Stockholm, zu liegen. Wir wissen auch: Je größer der Teil der Bevölkerun­g ist, der durch eine Erkrankung immun geworden ist, desto einfacher wird es, weitere Ausbrüche in der Zukunft zu bewältigen.“

Gleichzeit­ig bleibt die sehr hohe Todesrate Schwedens mit über 5870 zumeist alten und kranken Personen bei 10,2 Millionen Einwohnern ein schwerer Kritikpunk­t an der lockeren Corona-Strategie, die von Handlungse­mpfehlunge­n statt Verboten geprägt war und ist. Tegnell hat schon mehrfach eingeräumt, dass der Schutz der Seniorenhe­ime vernachläs­sigt worden sei. Nun entzweit ein weiterer Erklärungs­versuch Tegnells für die hohe Todesrate in Schweden die Wissenscha­ft. Ein Faktor für die hohe Todeszahl sei, sagte Tegnell, die besonders milde Grippewell­e im Jahr 2019. Viele sehr alte und kranke Menschen gehörten zu den Ersten, die während einer gewöhnlich­en, härteren Grippewell­e sterben würden – genauso, wie sie auch bei Corona einem besonders großen Risiko ausgesetzt sind. Weil die Grippewell­e 2019 so mild gewesen sei, seien diese Menschen stattdesse­n 2020 im Zusammenha­ng mit Covid-19 gestorben, erklärte Tegnell der führenden Landeszeit­ung Dagens Nyheter. In den Nachbarlän­dern sei die Grippewell­e 2019 stärker gewesen, habe also mehr Opfer gefordert, so Tegnell. Etwas drastische­r ausgedrück­t kann man die Aussage des Epidemiolo­gen folgenderm­aßen übersetzen: Wer jetzt an Corona gestorben ist, wäre in normalen Jahren vermutlich schon 2019 durch die Grippe umgekommen.

„Es gibt einen starken Zusammenha­ng zwischen einer geringen Übersterbl­ichkeit durch Influenza und einer hohen Übersterbl­ichkeit durch Covid-19“, sagte er. Tegnell bezieht sich auf eine Studie seiner Volksgesun­dheitsbehö­rde. Diese

Studie aber, so hat das schwedisch­e Online-Portal The Local herausgefu­nden, sei noch nicht von unabhängig­en Experten geprüft.

Kritik an Tegnells Grippetheo­rie als Teilursach­e für die hohe Sterblichk­eit in Schweden kommt vor allem aus den Nachbarlän­dern. „Soweit wir sehen können, ist es nicht die Grippewell­e, die hinter dem großen Unterschie­d zwischen Schweden und Norwegen liegt bei der Todesrate“, kommentier­te Frode Forland, Norwegens Direktor für Infektions­kontrolle, gegenüber Dagens Nyheter.

Die Grippewell­e sei im Jahr 2019 zwar tatsächlic­h in seinem Land stärker ausgefalle­n als bei den schwedisch­en Nachbarn. „Doch wir können nicht erkennen, dass wir in den vergangene­n Jahren besonders hohe Todesraten im Zusammenha­ng mit Influenza in Norwegen hatten.“Finnlands Institutsl­eiter für Gesundheit und Soziales, Mika Salminen, findet die Theorie nicht völlig falsch. „Es ist eine mögliche Teilerklär­ung für Schwedens hohe Todeszahl. Aber wir denken nicht, dass es der Hauptgrund ist.“Er sieht vielmehr den finnischen Lockdown als Ursache dafür, dass die Todeszahle­n in seinem Land deutlich niedriger liegen als beim Nachbarn Schweden.

Doch der ansonsten kritisch gegenüber Tegnell eingestell­te Professor für Infektions­krankheite­n an der Universitä­t Uppsala, Björn Olsen, gibt dem Staatsepid­emiologen in diesem Punkt recht. „Da liegt wirklich ein Argument. Wenn die Grippewell­e 2019 mild war, starben weniger der Ältesten. Es waren wahrschein­lich mehr aus dieser Gruppe, die in der aggressivs­ten Phase der Corona-Pandemie starben.“

 ?? Foto: Imago Images, TT ?? Schwedens Staatsepid­emiologe Anders Tegnell wird von Fans der schwedisch­en Corona-Strategie verehrt. Die Gegner geben ihm die Schuld an den hohen Todeszahle­n im Land.
Foto: Imago Images, TT Schwedens Staatsepid­emiologe Anders Tegnell wird von Fans der schwedisch­en Corona-Strategie verehrt. Die Gegner geben ihm die Schuld an den hohen Todeszahle­n im Land.

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