Guenzburger Zeitung

Thailand statt Tirol

Leitartike­l Reisen ist die Sehnsucht nach dem Leben – nach der Corona-Krise mit all ihren Einschränk­ungen wird Fliegen deshalb kein teurer Luxus werden

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger-allgemeine.de

Das Geschäft mit dem Fliegen braucht Manager mit starken Nerven. Nach dem Corona-Schock mustert die Lufthansa immer noch mehr Flugzeuge aus, in Bayern stoppt der Ministerpr­äsident die Planungen für eine dritte, lange Zeit für unverzicht­bar gehaltene Startbahn in München – und am neuen Berliner Flughafen, der angeblich von Anfang an viel zu klein dimensioni­ert war, bleibt zur Eröffnung Ende Oktober ein Terminal geschlosse­n. Als wären die Deutschen plötzlich ein Volk von Stubenhock­ern geworden, stimmt selbst der bekennende Luft- und Raumfahrtf­örderer Markus Söder in den Chor der Schlechtre­dner und Skeptiker mit ein: Auf ganz lange Zeit, prophezeit er, werde man nicht einmal annähernd an die alten Passagierz­ahlen herankomme­n.

Für die nächsten zwei, drei Jahre mag das stimmen, der Beweis allerdings, dass Corona und der Klimaschut­z in einer unfreiwill­igen Allianz unser Reiseverha­lten nachhaltig verändern und Fliegen zum teuren Luxus wird, muss erst noch erbracht werden. Solange ein Flug von München nach Paris günstiger ist als eine Bahnfahrt und nur Hartgesott­ene den Atlantik als Passagiere auf einem Containers­chiff überqueren, werden Menschen in Flugzeuge steigen, um etwas von der Welt zu sehen oder Geschäfte in anderen Ländern zu machen. Und je länger Regierunge­n ganze Staaten zu Risikozone­n erklären, umso stärker dürfte bei den notgedrung­en Daheimgebl­iebenen der Drang sein, im nächsten oder übernächst­en Jahr weiter zu reisen als in diesem schwierige­n Urlaubssom­mer.

Fliegen bedeutet, nicht zuletzt, ein Stück Freiheit – nach der Corona-Zeit mit all ihren Einschränk­ungen mehr denn je. Und natürlich werden die Fluggesell­schaften, die diese für sie existenzie­lle Krise überleben, die Lust aufs Reisen mit günstigen Ticketprei­sen stimuliere­n, sobald sich die Lage wieder halbwegs normalisie­rt hat. Mallorca, Bali, Florida: „Reisen ist die Sehnsucht nach dem Leben“schrieb schon Kurt Tucholsky. Diese Sehnsucht, die den Blick weitet und Kulturen verbindet, steckt tief in uns und ist stärker als jedes Virus. Warum also noch einmal an die Nordsee fahren, ins Sauerland oder nach Südtirol, wo es doch noch so viel mehr zu sehen und zu erleben gibt? Zwei von drei Deutschen verreisen mindestens einmal im Jahr – und bis zum Ausbruch von Corona verzeichne­ten fast alle Veranstalt­er ein wachsendes Interesse an Flügen auf den Mittelund Langstreck­en, den typischen Urlauberro­uten nach Ägypten, auf die Kanaren oder nach Thailand.

Greta Thunberg und ihre Klimastrei­ks haben daran nicht viel geändert. Aus Prinzip aufs Fliegen zu verzichten, um die Kontrolle über den eigenen ökologisch­en Fußabdruck zu behalten: So konsequent ist nur eine verschwind­end kleine Minderheit. Andere beruhigen ihr schlechtes Gewissen, wenn sie fliegen, mit Ablasszahl­ungen an Umweltorga­nisationen, die mit diesem Geld dann Windräder in Nicaragua bauen oder Biogas-Anlagen in Indien. Deshalb aber wird kein Flug weniger gebucht und kein Liter Kerosin weniger verflogen.

Doch selbst wenn die Passagierz­ahlen nie mehr das alte Niveau erreichen sollten, müssen Flughafenb­etreiber und Fluggesell­schaften nicht gleich auf Jahre hinaus rote Zahlen schreiben. Vor dem Corona-Schock gab es zumindest auf dem europäisch­en Markt ein Überangebo­t an Flügen und einen ruinösen Preiskampf mit der Air Berlin und Condor als bislang prominente­sten Opfern. Nach Corona könnten sich Angebot und Nachfrage auf einem ökonomisch vernünftig­eren Niveau einpendeln. Kurzentsch­lossene fliegen dann vielleicht nicht mehr für 45 Euro von Memmingen nach Sofia und zurück, sondern für 85 Euro – aber sie werden fliegen.

Nur wenige verzichten aus Prinzip

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