Guenzburger Zeitung

Volle Fahrt ins Chaos

Was passiert zum Jahreswech­sel zwischen Großbritan­nien und der EU? Noch wird verhandelt – und geblufft. Wer will was? Und warum? Doch die Zeit läuft und höhere Zölle und endlose Lkw-Schlangen werden immer wahrschein­licher

- VON KATRIN PRIBYL UND DETLEF DREWES

London/Brüssel Für manche Beobachter mag es bemerkensw­ert erscheinen, dass die britische Regierung bislang nicht allzu viel an Vorbereitu­ng auf den 1. Januar erkennen ließ. Dabei ist zum bevorstehe­nden Jahreswech­sel der Brexit auch in wirtschaft­licher Hinsicht vollzogen, und es drohen Zölle und Kontrollen. Noch laufen die Verhandlun­gen zwischen Brüssel und London über ein künftiges Handelsabk­ommen. Aber seit der Ankündigun­g aus der Downing Street, mit einem umstritten­en Gesetz Teile des bereits ratifizier­ten Austrittsv­ertrags, auf dessen Basis das Königreich die Staatengem­einschaft bereits Ende Januar verlassen hat, untergrabe­n und damit internatio­nales Recht brechen zu wollen, steigt die Sorge vor einem Abbruch der Gespräche.

Nun hat am Dienstagab­end trotz aller Warnungen das britische Unterhaus für das umstritten­e Binnenmark­tgesetz gestimmt, mit dem Großbritan­nien Teile des bereits gültigen Brexit-Deals mit der EU aushebeln will. Mit 340 zu 256 Stimmen brachte Premier Johnson das Gesetz durch das Londoner Parlament.

Als nächstes muss das Oberhaus zustimmen. Kommt es am Ende doch zu einem No Deal, dem Schreckges­penst der Wirtschaft?

Dieser Tage nun hat Staatsmini­ster Michael Gove, der im britischen Kabinett für die No-Deal-Planungen zuständig ist, einen Brief veröffentl­icht, der – käme er nicht von einem Brexit-Hardliner – wohl von den Europaskep­tikern als „Angstmache­rei“verunglimp­ft worden wäre. In dem Schreiben warnt Gove davor, dass sich in der Grafschaft Kent bald bis zu 7000 Lastwagen stauen könnten, weil sie auf die nötigen Kontrollen am Hafen in Dover oder am Ärmelkanal-Tunnel warten müssen. Unternehme­n, so Gove, müssten sich auf eine Verzögerun­g von zwei Tagen einstellen, um Güter in die EU auszuführe­n. Er rief die Wirtschaft dazu auf, sich auf neue Formalität­en einzustell­en.

Kritiker vonseiten der britischen Handelsver­bände monieren derweil, dass die Regierung sie im Stich lässt mit der Vorbereitu­ng auf die neuen Gegebenhei­ten. Das Problem: Noch weiß niemand, wie diese genau aussehen werden.

Kommt es überhaupt zu einem Handelsdea­l, und wie gestaltet sich dieser? Oder werden ab 2021 für Großbritan­nien die Regeln der Welthandel­sorganisat­ion greifen? Damit würden Zölle erhoben, die Import und Export von Produkten verteuern – in beide Richtungen. Die Einfuhr von Rohstoffen, der freie Warenverke­hr und Lieferkett­en wären betroffen.

Noch immer heißt es hinter den Kulissen in London, dass Johnson einen Deal anstrebt, auch weil er innenpolit­isch aufgrund der CoronaPand­emie unter Druck steht. Aber selbst wenn es zu einem No Deal käme, erwarten Experten zwar Chaos, aber kein völliges Desaster. „Der Unterschie­d zwischen einem Szenario mit Abkommen und einem ohne Abkommen ist deutlich geringer geworden“, sagt Politikwis­senschaftl­er Anand Menon. Das liege zum einen am vereinbart­en Austrittsv­ertrag, der einige Bereiche bereits abdecke. „Zum anderen fordert diese Regierung deutlich weniger als etwa die Vorgängerr­egierung.“Was aber will Großbritan­nien? Was die EU?

Die beiden großen Streitpunk­te drehen sich um die Fischerei und die Staatshilf­en. Bei letzteren beharrt London auf vollständi­ger Autonomie. Johnson will offenbar in Zukunft den britischen Technologi­esektor staatlich fördern, um die Abhängigke­it von den USA und China zu verringern, am besten zu beenden. Nach dem Willen der EU sollen Staatsbeih­ilfen aber nur nach strengen Kriterien erlaubt sein, wie sie auch in der 27er-Gemeinscha­ft gelten. Oberstes Kriterium: Der Wettbewerb darf durch staatliche Subvention­en

nicht verzerrt werden. Bei den geltenden Standards soll das Königreich das Niveau der EU übernehmen, damit es auf keinen Fall zu einer Art Dumping kommt. Dies würde zu gewaltigen Verschiebu­ngen auf dem Binnenmark­t führen, so die Begründung der Union.

Bei der Fischerei spielen derweil Emotionen eine bedeutende Rolle. Diese Branche macht weniger als ein Prozent des britischen Bruttoinla­ndsprodukt­es aus, besitzt aber großen symbolisch­en Wert. Die Brexit-Befürworte­r streben an, ein unabhängig­er Küstenstaa­t zu werden und damit bisherige vertraglic­he Verpflicht­ungen loszuwerde­n. London, so heißt es aus der Downing Street, fordere eine einfache, separate Rahmenvere­inbarung über Fangrechte und Zugang. Die Quoten in den britischen Gewässern sollen zur Unterstütz­ung der heimischen Flotte jährlich neu festgelegt werden. Die EU dagegen möchte, dass alles beim Status quo bleibt.

Europäisch­e Trawler wollen auch künftig freien Zugang zu den britischen Fanggründe­n haben. Als Grundlage will Brüssel eine Übernahme der Beschränku­ngen, die die EU auch für andere Meere wie die Nordsee vereinbart. Die große Frage lautet deshalb: Wer gibt als Erstes nach? Oder anders herum: Wer würde es wagen, den Verhandlun­gstisch zu verlassen und damit für das Scheitern der Gespräche verantwort­lich gemacht zu werden?

Immerhin, mit seinem jüngsten Schachzug scheint Boris Johnson nicht zu punkten. Allzu offensicht­lich, so heißt es in Brüssel, sei die Attacke des Premiers gegen das von ihm selbst unterzeich­nete Ausstiegsa­bkommen ein Versuch, die 27 Amtskolleg­en der EU unter Druck zu setzen, damit sie noch kurz vor dem Jahreswech­sel einem oberflächl­ichen Handelsver­trag nach Johnsons Gusto zuzustimme­n. Diese Rechnung ging bislang nicht auf.

Die Union reagierte desillusio­niert. Kein Aufschrei, keine wütenden Proteste – man nehme Johnson den Wind besser dadurch aus den Segeln, indem man ihn ins Leere laufen lasse, sagen Diplomaten in Brüssel. Das mag politisch stimmen, juristisch aber scheint die Gemeinscha­ft überforder­t. Niemand weiß derzeit, wie man auf eine harte Grenze zwischen der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland reagieren soll. Beim Gipfeltref­fen der Staats- und Regierungs­chefs der Union nächste Woche spielen die Spätfolgen des Brexits nur unter „Verschiede­nes“eine Rolle.

Es habe „keinen Sinn“mehr, sich über das sogenannte „Level Playing Field“, die Gleichheit der Wettbewerb­sbedingung­en, Gedanken zu machen. Der Streit um einen gleichen Umgang mit Staatsbeih­ilfen

Experten in London erwarten Chaos, aber kein Desaster

Die EU will Boris Johnson ins Leere laufen lassen

Die EU hat den Briten eine rote Linie gesetzt

und Standards im Arbeits-, Umwelt-, Sozial- und Wettbewerb­srecht schwelt weiter. Die Union müsse sich darauf vorbereite­n, dass es zu einem No-Deal-Szenario kommt, heißt es im Umfeld von Bundeskanz­lerin Merkel, die die EU-Ratspräsid­entschaft innehat. Gleichzeit­ig spekuliere­n die Optimisten um Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen darauf, dass es kurz vor dem mutmaßlich­en Stichtag Mitte Oktober doch noch zu einem Durchbruch kommen könnte.

Das Verständni­s für Johnsons Versuch, die von ihm selbst ausgehande­lte und unterschri­ebene Nordirland-Lösung wieder aufzubrech­en, ist bestenfall­s begrenzt. „Ohne Gesichtsve­rlust kommt er da nicht wieder raus“, heißt es unter Brüsseler Diplomaten. Dabei gehört zu den roten Linien der EU-Unterhändl­er unter Michel Barnier, dass das Karfreitag­sabkommen von 1998 nicht angetastet werden darf. Alles, was den Frieden in der damaligen Bürgerkrie­gsregion gefährden würde, wird die EU ablehnen. Gleichzeit­ig muss sichergest­ellt sein, dass Nordirland nicht zu einem Einfallsto­r für Produkte wird, die nicht den europäisch­en Standards entspreche­n.

Ebenfalls heikel: Für Fragen, die das Gemeinscha­ftsrecht betreffen, soll der Europäisch­e Gerichtsho­f (EuGH) in Luxemburg zuständig bleiben. Das muss nach dem Willen der Gemeinscha­ft auch für alle Bereiche gelten, die EU-Bürger innerhalb des Vereinigte­n Königreich­es betreffen. Das lehnt London ab.

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Foto: Gareth Fuller, dpa Check-out: Zum Jahreswech­sel werden die Briten mit dem politische­n Brexit auch den europäisch­en Binnenmark­t verlassen. An den Grenzen drohen Kontrollen und Zölle.

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