Guenzburger Zeitung

Die Barbesitze­r begehren auf

In Frankreich breitet sich das Coronaviru­s so stark aus wie in fast keinem anderen europäisch­en Land. Die Regierung verhängt neue Maßnahmen, die Bevölkerun­g ist gespalten

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Im Internet macht derzeit eine französisc­he Karikatur die Runde, in der ein Paar am Tisch einer Bar sitzt. Aufgeschre­ckt blicken beide den Kellner an, der unter seiner Maske verkündet: „Wir schließen! Es ist 21.58 Uhr, der Covid kommt in zwei Minuten!“

Zum Lachen finden Barbetreib­er in mehreren französisc­hen Städten die neue, von der Regierung auferlegte Schließzei­t allerdings nicht. In Paris, Lyon, Nizza oder Bordeaux müssen alle Kneipen um 22 Uhr zumachen; davon ausgenomme­n sind Restaurant­s, die Alkohol nur zum Essen ausschenke­n. Am angespannt­esten ist die Lage in Marseille, Aixen-Provence und auf der Karibikins­el Guadeloupe, wo Restaurant­s, Cafés und Bars zwei Wochen lang komplett schließen müssen.

Die Bürgermeis­ter von Marseille, Lyon und Bordeaux klagten bereits über die „brutalen“Maßnahmen, der Präsident der Region ProvenceAl­pes-Côte d’Azur reichte eine juristisch­e Beschwerde ein. „Wir verstehen nicht, warum die Bevölkerun­g zusammenge­pfercht in der Metro sicherer sein soll als bei uns“, sagte Stéphane Manigold, Sprecher des Pariser Zusammensc­hlusses „Bleiben wir offen“. Die Gastronome­n hatten ihm zufolge beträchtli­che Investitio­nen getätigt, um alle Hygienemaß­nahmen einzuhalte­n.

Am Dienstag nun empfingen Premiermin­ister Jean Castex und Wirtschaft­sminister Bruno Le Maire die Vertreter der Hotellerie- und Gastronomi­e-Branche, um sich deren Sorgen anzuhören. Die französisc­he Regierung versucht einen Mittelweg zu finden zwischen dem Bemühen, die Wirtschaft und das Leben der Menschen nicht zu sehr einzuschrä­nken – und Restriktio­nen, die sie als notwendig erachtet, um die Ausbreitun­g des Coronaviru­s einzudämme­n.

Das Pandemie-Problem ist groß in Frankreich. Das Virus breitet sich mit zuletzt bis zu 16000 Neuinfekti­onen pro Tag so stark aus wie in keinem anderen europäisch­en Land, abgesehen von Spanien. In Deutschlan­d liegt die Zahl bei um die 2000. Inzwischen führt Frankreich über eine Million Tests pro Woche durch; der Anteil der positiven Tests nimmt weiter zu. Innerhalb einer Woche wurden mehr als 4000 Menschen ins Krankenhau­s eingeliefe­rt. Die staatliche Gesundheit­sagentur beobachtet vor allem den wachsenden Anteil der älteren Menschen, die erkranken, mit Sorge. Seit Ausbruch der Pandemie sind in Frankreich mehr als 31800 Menschen nach einer Infektion mit dem Coronaviru­s gestorben. In Deutschlan­d waren es knapp 9500.

Es gibt verschiede­ne Erklärungs­versuche für diese Entwicklun­g. Vermutet wird, dass das Virus bereits ab Februar in Frankreich stärker verbreitet war als anderswo – und trotz der strikten zweimonati­gen Ausgangsbe­schränkung­en zwischen März und Mai weiter zirkuliert­e. Zwar gilt in allen Unternehme­n die Maskenpfli­cht am Arbeitspla­tz und in den meisten Städten auch im Freien. Gleichzeit­ig sammeln jedoch weder Restaurant­s Kontaktinf­ormationen von Gästen noch gibt es Einreisebe­schränkung­en aus anderen Ländern.

Die Regierung machte zunächst private Feiern hauptveran­twortlich für die Situation und rief nach der Sommerpaus­e die Menschen dazu auf, wieder ins Büro zu gehen. Entspreche­nd voll wurden U-Bahnen und Busse. Inzwischen wird zum Arbeiten im Homeoffice geraten.

Die öffentlich­e Meinung ist gespalten: Ein Teil der Bürger folgt jenen Medizinern, die vor Panikmache warnen und in einem offenen Brief forderten, man dürfe sich „nicht von der Angst regieren lassen“. Andere vertrauen denjenigen Ärzten, die nach drastische­n Maßnahmen rufen und Engpässe in den Kliniken befürchten.

„Gedanklich sind wir immer noch in der Sommerphas­e und machen uns nicht klar, dass sich die Situation rasant entwickelt“, sagte der Präsident der französisc­hen Ärztekamme­r, Patrick Bouet. Ohne „starke Gegenmaßna­hmen“werde die Zahl der Patienten, die täglich in die Intensivst­ationen eingeliefe­rt werden, bald wie im schlimmste­n Moment der ersten Welle bei rund 650 liegen und Mitte November bei mehr als 1200. Die Wirtschaft­snobelprei­sträger Esther Duflo und Abhijit Banerjee forderten in der Zeitung Le Monde einen Lockdown im Advent, „um Weihnachte­n zu retten“.

Gesundheit­sminister Olivier Véran lehnte das ab: Er treffe keine Entscheidu­ngen Monate im Voraus, sondern passe sie jeweils an die Situation des Moments an. Das sei komplizier­t genug, sagte er.

 ?? Foto: Daniel Cole, dpa ?? Restaurant- und Barbesitze­r demonstrie­rten kürzlich im südfranzös­ischen Marseille gegen eine Anti-Corona-Anordnung der Regierung.
Foto: Daniel Cole, dpa Restaurant- und Barbesitze­r demonstrie­rten kürzlich im südfranzös­ischen Marseille gegen eine Anti-Corona-Anordnung der Regierung.

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