Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (65)
Die Sekretärin versuchte ihn mit routinierter Gleichgültigkeit abzuwimmeln, es tue ihr leid, ein Besuch sei heute nicht möglich. Aber Barudi ließ sich nicht einschüchtern.
„Es geht um einen Mord, und Ihr Chef hatte Kontakt mit dem Opfer, einen kurzen, intensiven Kontakt, deshalb muss ich ihn sofort sprechen. Oder wollen Sie es verantworten, dass ich ihn abholen lasse?“Barudis Tonfall war mit Arroganz geladen, und die routinierte Sekretärin, die mit flinker Zunge am Tag zwischen zwanzig und dreißig Anrufer abservierte und deren „Es tut mir leid“von einem Papagei hätte gesprochen werden können, wusste, dass sie nun schnell einen Rückzieher machen musste. „Warten Sie bitte, ich frage nach. Ich bin sofort wieder da.“Dann erklang einschläfernde Musik, die die Aggressionen des Wartenden mildern sollte. Barudi dachte kurz daran aufzulegen. Doch schon war die Sekretärin wieder zurück.
„Herr Professor Farcha bittet Sie zu kommen“, sagte sie. Barudi bedankte sich tonlos wie ein schlechter Automat und legte auf.
Eine halbe Stunde später wurde er von einer etwa dreißigjährigen hübschen Frau mit strengem Kopftuch im Vorzimmer des Scheichs empfangen. Sie nickte, lächelte kalt, gab ihm aber nicht die Hand, weil sie wusste, dass er Christ war. Ihre Sekte betrachtete Christen als „unrein“. Kurz dachte er daran, die Weigerung der Sekretärin, ihm die Hand zu geben, als Beleidigung zu kritisieren, dann aber winkte er innerlich ab. Das Gespräch mit dem Scheich würde schwierig genug werden.
Die Frau öffnete die schwere dunkle Tür aus Walnussholz. Wie so oft in alten Gebäuden, hatte auch dieses Chefzimmer eine Doppeltür, die das Büro vor neugierigen Ohren schützte. Beim Bau des Hauses kannte man elektronische Wanzen und anderes Ungeziefer noch nicht. Nachdem sie angeklopft hatte, öffnete die Sekretärin auch die zweite Tür.
Hinter einem überdimensionalen Schreibtisch saß ein kleiner Mann. An der Wand hing wie in allen Amtsstuben, Schulen und Universitäten das Bild des Präsidenten.
Das erste, was Barudi auffiel, war der große braune Fleck auf der Stirn des Professors. Es war eine Mode unter den Männern, die um die Jahrtausendwende in Syrien aufgekommen war. Häufig wurde der Fleck mittels einer Bräunungscreme oder frischer Walnussschalen hergestellt. Der Fleck sollte Gebetseifer andeuten. Wenn ein Mann vor lauter Ekstase seine Stirn auf den Boden drückte, entstand angeblich über die Jahre ein brauner Fleck, „Gebetsfleck“oder „Rosine“genannt. Zwar beten Frauen viel mehr als Männer, aber keine arabische Frau trägt einen braunen Fleck auf der Stirn.
Der Scheich hatte schneeweißes Haar. Er trug einen schicken dunklen Anzug, aber keine Krawatte. Auch das war Mode unter den Islamisten. Damit zeigte man, dass man gläubiger Muslim war und die europäische Krawatte verachtete. Barudi fand diese Haltung ziemlich lächerlich, ja fast schizophren, denn alles andere an diesen Männern war europäisch, der Anzug, die Uhr, die italienischen Schuhe, das Smartphone,
das Auto, die Medikamente und sogar die Spezialcreme für den dunklen Fleck auf der Stirn, eine französische Marke.
„Kommissar Barudi“, rief Scheich Farcha mit kräftiger, warmer Stimme, stand auf und trat hinter seinem Schreibtisch hervor, um Barudi die Hand zu reichen. Er zeigte auf eine Sitzecke und bat die Sekretärin, zwei Tassen Kaffee zu bringen. Ein ekelhafter Geruch hing in der Luft. Barudi wunderte sich, wie der Scheich den ganzen Tag in einem Raum arbeiten konnte, in dem es nach einer Mischung aus Mottenkugeln, ranzigem Fett und alten Socken müffelte.
Barudi nahm Platz und stellte das Aufnahmegerät auf den Tisch. „Nur als Gedächtnisstütze für mich“, erklärte er und drückte auf den Aufnahmeknopf.
Der Scheich sah ihm regungslos zu, nur die rechte Augenbraue schien mit einer winzigen Bewegung seine Verwunderung zum Ausdruck zu bringen. Sein maskenhaftes Gesicht, seine ruhige Stimme, die Hände, die regungslos auf dem Tisch lagen, verrieten nichts.
„Wie kann ich Ihnen helfen, Kommissar?“, fragte Scheich Farcha schließlich so arrogant, als würde er einem unbeholfenen Studenten zeigen, wer der Herrscher war.
„Die Frage, Scheich Farcha, muss umgekehrt lauten. Ich komme, um Ihnen zu helfen, da uns Zeugen von einem Streit zwischen Ihnen und dem Kardinal berichtet haben. Deshalb möchte ich Ihnen einige Fragen stellen. Vielleicht ist dann uns beiden geholfen. Wer weiß?“
„Schießen Sie los“, sagte der Scheich trocken und sank tiefer in seinen Sessel.
„Warum haben Sie den Kardinal aufgesucht? Und worum ging es bei Ihrem Streit? Eine Zeugin behauptet, sie habe Sie beim Hinausgehen schimpfen gehört. Stimmt es, dass Sie den Kardinal einen ,Kreuzzügler‘ genannt haben? Mit diesem Wort haben ihn auch die Islamisten beschimpft, die ihm am Flughafen auflauerten.“
„Ich fange von hinten an“, begann der Scheich mit leiser Stimme, gerade als die Sekretärin den Kaffee brachte. Der Kaffee ist nur aufgewärmt, dachte Barudi, in so kurzer Zeit kann man keinen frischen Kaffee zubereiten. Misstrauisch nahm die Sekretärin das Aufnahmegerät zur Kenntnis und tauschte einen vielsagenden Blick mit dem Scheich.
„Keine Sorge, ich nehme das Gespräch nur auf, damit ich nichts vergesse, wie ein Journalist“, erklärte Barudi erneut und lächelte. Wenn er mit dieser scherzenden Anbiederung die Atmosphäre hatte auflockern wollen, so ging das völlig schief. Der Scheich betrachtete das Gerät mit größerem Misstrauen als zuvor.
Barudi nahm den ersten Schluck Kaffee, der nach nassem Leder roch und dumpf und bitter schmeckte. Sein Verdacht war bestätigt, und er ließ es bei diesem Schluck bewenden.
„Wird das ein Verhör?“, fragte Scheich Farcha verärgert, als die Sekretärin den Raum verlassen hatte.
„Um Gottes willen, nein. Wir haben keinen Anlass, Sie zu verhören, aber wir wollen unser Bild vom Geschehen und vor allem vom Kardinal präzisieren. Es ist ein Gespräch“, erwiderte Barudi und wusste, dass er log. Der Scheich wusste es auch. „Aber lieber Herr Kommissar, Sie dringen mit Ihren Fragen in mich ein“, sagte er prompt, „es ist doch ein Verhör.“
„Scheich Farcha, bitte verschwenden Sie keine Zeit, weder Ihre noch meine. Nennen Sie unser Gespräch, wie Sie wollen. Ich muss mein Bild von Kardinal Cornaro präzisieren. Leider kann ich ihn nicht mehr fragen, also bin ich auf Personen angewiesen, die mit ihm in Kontakt waren.“Barudis Stimme war ruhig, dennoch war sein Missmut deutlich zu vernehmen.
Scheich Farcha dachte einen Moment lang nach. »66. Fortsetzung folgt
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt. © Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019