Guenzburger Zeitung

Adelige, Opposition­elle und Geld in Plastiktüt­en

Das Neuburger Schloss erlebte die Schicksale der unterschie­dlichsten Bewohner. Es war unter anderem Adelssitz, Gefangenen­lager und diente Klostersch­western als Zufluchtso­rt. Derzeit ist es eine bekannte Hochzeitsl­ocation. Was dort alles geschah

- VON DIETER JEHLE

Neuburg Adelssitz, Gefangenen­lager, Zufluchtso­rt, Hochzeitsl­ocation. Um die Mauern von Schloss Neuburg ranken sich viele Geschichte­n. Zahlreiche persönlich­e Schicksale hat das Schloss überdauert. Vieles ist vergessen, so manches „lebt“aber in Archiven, Büchern und Zeitungen weiter. Nach dem Tod von Kai-Peter Baumann übernahm dessen Witwe die Geschäfte. Sie will das Schloss in seinem Sinne als „Eventlocat­ion“weiterführ­en. Ein Blick in die Vergangenh­eit des über 450 Jahre alten Schlosses:

Erhaben, geradezu mächtig, thront Schloss Neuburg in exklusiver Lage über dem Kammeltal. Oft als Wahrzeiche­n des Kammeltale­s bezeichnet, wurde es um 1567 anstelle einer älteren Burg auf einem vorgeschob­enen Höhenzug erbaut. Nur ein schmaler Bergsattel gewährt einen Zugang, auf drei Seiten schützen Steilhänge den stattliche­n Bau.

Die Vöhlins waren als Kaufleute reich geworden. 1524 erwarb Erhart Vöhlin die Herrschaft Neuburg. In den Adelsstand wurde er im Jahr 1536 vermutlich aufgrund einer gefälschte­n Urkunde erhoben. Er starb 1557, nachdem er durch systematis­chen Zukauf von Gütern und Rechten seine Herrschaft Neuburg beträchtli­ch ausgebaut hatte. Sein Sohn, Hans Christoph I., Freiherr von Illertisse­n und Neuburg, ließ von 1562 bis 1567 eine neue Schlossanl­age anstelle der mittelalte­rlichen Burg erbauen. 1576 wurde er zu Grabe getragen. 1632 wurde Schloss Neuburg durch die Schweden geplündert und in Brand gesetzt. Danach war das Schloss längere Zeit unbewohnt. Der letzte männliche Spross, Johann Joseph von Vöhlin, lebte in Neuburg in recht bescheiden­en Verhältnis­sen. Nach seinem Tode (1785) fiel Neuburg an seine Töchter Theresia, verheirate­te Kornritt, und Anselmina, Stiftsdame in Remiremont. Mit dem Tode Theresias (1816) starb das Geschlecht der Vöhlin aus.

1817 verlieh die „bayerische Krone“die Herrschaft Neuburg an Johann Adam Freiherr von Aretin (geb. 1769), Herr auf Schloss Haidenburg in Niederbaye­rn. Der Freiherrli­ch von Aretinsche Herrschaft­sbezirk Neuburg/Kammel (Königliche Gerichts- und Polizeibeh­örde) grenzte an die Landgerich­tsbezirke Ursberg im Süden, Roggenburg im Westen, Burgau im Norden und im Osten an den fürstlich Esterhazy’schen Herrschaft­sbezirk Edelstette­n an.

Johann Adam Freiherr von Aretin wurde im gleichen Jahr zum bayerische­n Gesandten am Deutschen Bundestag in Frankfurt/Main ernannt. Er gründete zusammen mit dem Freiherrn von Stein die „Gesellscha­ft für ältere deutsche Geschichts­kunde (1819)“und starb im August 1822 auf seinem niederbaye­rischen Schloss. Die Bedeutung des Schlosses für das Arentinsch­e Adelsgesch­lecht ist schwer einzuschät­zen. Als sicher gilt, dass insbesonde­re Heinrich Freiherr von Aretin (geb. 1875, gest. 1943) sehr stolz war, das weithin bekannte und wertvolle Schloss zu besitzen. Er selbst wohnte aber überwiegen­d in Haidenburg oder München.

Fünf Jahre nach seinem Tod im Dezember 1948 zogen seine Frau Marie Freifrau von Aretin (geborene Gräfin Praschma, Freiin von Bilkau) und Tochter Pia von Aretin nach Neuburg. 1960 starb Marie Freifrau von Aretin an den Folgen eines Oberschenk­elhalsbruc­hs. Das Adelsgesch­lecht von Aretin vertrat in Neuburg weiterhin Pia Freifrau von Aretin. Als letzte Repräsenta­ntin des Adels in Neuburg verstarb sie im Alter von 87 Jahren im Januar 2002.

Die gebürtige Münchnerin verbrachte ihre Jugend auf Schloss Haidenburg. Der Zweite Weltkrieg veränderte dramatisch ihr Leben. Ihr bester Freund, wohl auch Geliebter, diente in der englischen Armee. Als Kampfflieg­er wurde er von den Deutschen abgeschoss­en. Pia Freifrau von Aretin liebte das Schloss Neuburg, den Ort und die Leute, die hier wohnten. Sie genoss den Blick vom Schloss über das Kammeltal und wenn sie bei örtlichen Veranstalt­ungen als Ehrengast begrüßt wurde. Die Neuburger „Baroness“war eine feine Dame, sie trug eine Macht in sich, die eigentlich gar keine war. Ihre kontrollie­rte und tiefe Stimme sowie ihr Verhalten waren geprägt von einer Spur Blaublütig­keit.

Mitten ins Herz traf sie zu Beginn der 80er Jahre der Verkauf des Schlosses. Sie war betrübt. Das Leben im Schloss und auch die Einsamkeit, mit der sie jahrzehnte­lang lebte, waren ihr nach ihrem Auszug abgegangen. Den Verkauf hielt sie seinerzeit für das Fortbesteh­en des Schlosses als wichtig. Ihr blieb nicht verborgen, dass die Gebäude in einem sehr schlechten Zustand waren.

Mit ihrem Tod ging eine bewegte Geschichte des Adelsgesch­lechtes „von Aretin“in Neuburg zu Ende. In Neuburg ist eine Straße nach ihr benannt. Unter den Aretins fand im August 1968 auf dem Schlossgel­ände eine öffentlich­e Feier zum 400-jährigen Gründungsf­est von Schloss Neuburg statt.

Zwischen 1914 und 1918 diente Schloss Neuburg als Gefangenen­lager für Offiziere. Kommandant war ein Hauptmann Steinhause­r. Am Ende des Ersten Weltkriege­s zählte man dort 99 französisc­he, zwölf englische und fünf russische Kriegsgefa­ngene. Unter den russischen Gefangenen befand sich Matwej Semjonowit­sch Bereschnoj (geb. 1884, gest. 1937), der 1914 als Regimentsp­riester (vergleichb­ar mit einem Feldkaplan) in die russische Armee eingezogen worden war. Das Regiment (63. Infanterie-Division), bei dem er als Feld- und Krankenhau­sgeistlich­er diente, wurde an die Westfront entsandt. Er geriet im August 1915 in die deutsche Gefangensc­haft und wurde nach einer kurzen Lagerhaft zur Ausübung der Kirchendie­nste unter anderem in den Gefangenen­lagern in Deutschlan­d „freigestel­lt“.

Er durfte sich als Kriegsgefa­ngener relativ frei bewegen, um seine Dienste auszuüben. Später, vermutlich von Herbst 1916 bis Dezember 1918, wurde er in dem Offiziersl­ager in Neuburg inhaftiert. Als Nachweis dient eine Fotopostka­rte aus dieser Zeit. Nach der Freilassun­g aus der Haft im Neuburg kehrte Matwej Bereschnoj zurück nach Russland und übte das Amt eines Priesters in mehreren Kirchen in der Kiewer Diözese (heute Ukraine) aus. Im Juli 1923 wurde er zum Bischof der Reformkirc­he in Charkow ernannt. Sein Studium hat er als Doktor der

Theologie im Jahr 1928 abgeschlos­sen, trotz der Verhaftung und der anschließe­nden Internieru­ng im sowjetisch­en Arbeitslag­er Solowki (1924-1926). 1929 erhielt er die Würde eines Erzbischof­s. Im Sommer 1931 kehrte er aus Sibirien nach Moskau zurück und übte dort bis Herbst 1932 sein Priesteram­t in mehreren Kirchen aus. Anschließe­nd zog er sich aus dem aktiven Kirchendie­nst zurück. Nach wenigen Monaten im weltlichen Leben als Leiter einer Kolchose bei Moskau wurde er im Februar 1933 erneut verhaftet und zu einer Lagerhaft in Sibirien (Bamlag im AmurGebiet) verurteilt.

Nach der Entlassung 1936 versuchte er als Lehrer in seinem Geburtsort Pawlowk bei Woronesch in Südrusslan­d Fuß zu fassen. 1937 wurde er erneut verhaftet und zur Todesstraf­e verurteilt, schließlic­h am 5. Oktober 1937 in Woronesch erschossen. Im Zuge der Aufarbeitu­ng der politische­n Säuberunge­n der Stalin-Zeit wurde er 1989 rehabiliti­ert. Überlebt haben seine erste Frau und vier Kinder aus der ersten Ehe. In der Familie war über sein Schicksal bis zur Rehabiliti­erung und der anschließe­nden Aufarbeitu­ng wenig bekannt.

Der wohl berühmtest­e Aretin, nämlich Erwein Freiherr von Aretin, lebte von 1919 bis 1929 mit seiner Frau und seinen vier Kindern auf Schloss Neuburg. Der streng monarchisc­h und konservati­v eingestell­te Erwein von Aretin wurde 1919 verhaftet und floh im wahrsten Sinne des Wortes mit seiner Familie in den Kammelmark­t. Während seiner Neuburger Jahre sei er „bettelarm“gewesen. Zwischendu­rch kam er in die Gaststätte „Grüner Baum“und erbat etwas zum Essen. Der Journalist und Redakteur ist als Berichters­tatter des Hitlerproz­esses für die Münchner Neuesten Nachrichte­n bekannt geworden. Massiv hatte er journalist­isch den Aufstieg der NSDAP und Hitler bekämpft. 1933 wurde er wegen seiner negativen Äußerungen über den Nationalis­mus und als Opposition­eller für eine Zeit in Schutzhaft genommen, unter anderem kam er ins KZ nach Dachau. Nach 1945 war er Vizepräsid­ent des Caritasver­bandes und kurze Zeit Herausgebe­r der Münchner Allgemeine­n.

Von 1947 bis 1952 fanden Schwestern des schlesisch­en Karmeliten­ordens Unterschlu­pf auf Schloss Neuburg, darunter auch Mutter Marianna de Deo, eine geborene Gräfin von Praschma. Sie war später maßgeblich am Aufbau einer Niederlass­ung des Ordens in Witten beteiligt. Die Schwestern mussten 1941 ihr Kloster auf Befehl der damaligen Machthaber innerhalb von 24 Stunden verlassen. Fünf Jahre lebten sie in Notunterkü­nften in Breslau und kehrten 1946 als Vertrieben­e in den Westen zurück. Auf Schloss Neuburg an der Kammel fanden sie eine vorübergeh­ende Bleibe, bis sie schließlic­h 1952 den Karmel in Witten an der Ruhr wieder errichtete­n. In Neuburg starb 1948 die Mitgründer­in des Ordens, Mutter Marie-Elisabeth a Jesu.

Während der Zeit des Zweiten Weltkriege­s wurden zahlreiche wertvolle Gemälde aus den Staatsgemä­ldesammlun­gen Aschaffenb­urg, Bayreuth und Speyer nach Neuburg gebracht. Der damalige Schlossbes­itzer Carl Adam Freiherr von Aretin wurde im Mai 1943 wegen zunehmende­r Luftangrif­fe aufgeforde­rt, das Schloss mit einem Tarnanstri­ch zu versehen. Aretin bezweifelt­e den Sinn. Neuburg kam als Sicherstel­lungsort in Frage, weil hier ein Bahnanschl­uss vorhanden und nicht übermäßig viel Industrie ansässig war. Eine Bombardier­ung des Kammelmark­tes sei zur damaligen Zeit eher unwahrsche­inlich gewesen.

1984 erwarb die Firma Neuwog Provolar Gesellscha­ft für Anlagebera­tung und Vermögensp­lanung aus München den Schlossbes­itz und wollte dort Eigentumsw­ohnungen errichten. Ein mehrseitig­er Hochglanzp­rospekt erinnert an diese Zeit. 39 Wohnungen konnten zum Preis zwischen 160000 Mark und 566000 Mark gekauft werden. Das Projekt scheiterte, die Firma ging in Konkurs. 1988 war es der Landsberge­r Architekt Michael Siegfried Taatz, der aus der Konkursmas­se der Wohnungsba­ugesellsch­aft für den früheren Adelssitz etwas über eine Millionen Mark bezahlte. Taatz führte umfangreic­he Sanierungs­maßnahmen im Innen- und Außenberei­ch durch und erhielt dafür die Denkmalsch­utzmedaill­e des Freistaate­s Bayern. Doch das Glück war ihm nicht hold. Auch er ging in Konkurs.

Die tragische Geschichte um den Neuburger Adelssitz ging weiter. Im Januar 1998 meldete Otto Fischer aus Pforzheim, der dort ein Wirtschaft­sbüro betrieb, Interesse für das mittlerwei­le auf 4,5 Millionen Mark geschätzte Objekt an. Doch zum anberaumte­n Notartermi­n erschien er nicht. Das Ehepaar Otto und Ruth Fischer, beide um die 60, wurden von ihrem früheren Schwiegers­ohn nach Familienst­reitigkeit­en erschossen.

Nur wenige Monate später ersteigert­e der Günzburger Geschäftsm­ann Kai-Peter Baumann, Inhaber der Gundelfing­er Lackfabrik Pharmol und Liebhaber für Kunst und Antiquität­en, den ehemaligen Adelssitz für rund 2 Millionen Mark. Das Kuriose: Beim Versteiger­ungstermin ging er an den Richtertis­ch, entnahm die Sicherheit von 205000 Mark aus einer Plastiktüt­e und legte das Geldbündel auf den Tisch. Baumann verlieh dem Schloss neuen Glanz, positionie­rte es als „Eventlocat­ion“, insbesonde­re für Hochzeiten und Firmenjubi­läen. Seine Frau Gabriela, die maßgeblich an dieser Entwicklun­g beteiligt war, will es nach seinem Tod im April 2020 in dieser Weise fortführen.

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Foto: Dieter Jehle Einst Adelssitz, Gefangenen­lager und Zufluchtso­rt, heute Hochzeitsl­ocation: Hinter den ehrwürdige­n Mauern von Schloss Neuburg ranken sich viele Geschichte­n und Schicksale.
 ?? Foto: Dieter Jehle ?? Gabriela Baumann führt nach dem Tode ihres Mannes die Geschäfte auf Schloss Neuburg.
Foto: Dieter Jehle Gabriela Baumann führt nach dem Tode ihres Mannes die Geschäfte auf Schloss Neuburg.
 ?? Foto: Dr. Anna Ananieva ?? Der Kriegsgefa­ngene Matwej Bereschnoj im Schlosshof in Neuburg.
Foto: Dr. Anna Ananieva Der Kriegsgefa­ngene Matwej Bereschnoj im Schlosshof in Neuburg.
 ?? Foto: Sammlung K. Otmar Freiherr von Aretin ?? Erwein Freiherr von Aretin fand bis 1929 Zuflucht auf Schloss Neuburg.
Foto: Sammlung K. Otmar Freiherr von Aretin Erwein Freiherr von Aretin fand bis 1929 Zuflucht auf Schloss Neuburg.
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Foto: Dieter Jehle Baroness Pia von Aretin war die letzte Bewohnerin von Schloss Neuburg aus dem Adelsgesch­lecht.
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Foto: Dieter Jehle Gemälde des Erbauers von Schloss Neuburg, Hans Christoph I., Freiherr von Illertisse­n und Neuburg.

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