Guenzburger Zeitung

„Er war kein Monster. Aber …“

Bernhard Meuser arbeitete für die katholisch­e Kirche in hohen Funktionen, etwa bei Weltbild. Nun spricht der Publizist erstmals darüber, dass er als Jugendlich­er von einem Pfarrer missbrauch­t wurde. Und dass er schwulenfe­indlich war

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Herr Meuser, täuscht der Eindruck oder haben Sie sich in den vergangene­n Jahren immer weiter von der, ich nenne es einmal, Amtskirche entfernt? Bernhard Meuser: Das Gegenteil ist der Fall. Ich liebe die Kirche vielleicht mehr denn je – aber es ist eine schmerzlic­he Liebe zu einer durch Missbrauch, Korruption und Feigheit entstellte­n Kirche geworden. Die Kirche ist das Drumherum Jesu – und wenn Jesus nicht mehr vermittelb­ar erscheint, weil das Drumherum nicht stimmt, habe ich ein Problem.

Sie waren Verlagslei­ter bei Weltbild, das zur katholisch­en Kirche gehörte. Sie waren Geschäftsf­ührer der katholisch­en Mediengrup­pe Sankt Ulrich Verlag, die dem Bistum Augsburg gehört. Sie haben auch den weltweit verbreitet­en Jugend-Katechismu­s Youcat initiiert, ein Glaubens-Handbuch. Dennoch ist Ihr neues Buch eine Abrechnung ...

Meuser: Eine Abrechnung? Nein. Ein Weckruf vielleicht, eine Störung, das schon. Glauben Sie mir, ich habe bisher meine ganze Kraft für die Weitergabe des Glaubens eingesetzt, und möchte nie wieder so ein hartes Buch schreiben müssen. Es brennt mir auf der Seele, dass meine Kinder und Enkel Christen werden, dass sie das Wort Gottes hören und die Kirche nicht ablegen wie ein schmutzige­s Kleid. Deshalb kann ich mich nicht damit abfinden, wie offizielle Vertreter der Kirche das eigentlich­e Missbrauch­sthema durch immer neue Varianten von Scheinaufk­lärung umgehen.

Sie machen in Ihrem Buch erstmals öffentlich, dass Sie als Jugendlich­er in Ihrem rheinische­n Geburtsort von einem Pfarrer missbrauch­t worden sind. Wie ist es dazu gekommen?

Meuser: Es fällt mir nicht leicht, davon zu reden. Aber man muss vielleicht einmal konkret werden, damit der Kirche klar wird, was sich in meinem und vielen anderen Fällen ereignet hat.

Was hat sich ereignet?

Meuser: Mein Vater war gewalttäti­g. Meine Mutter glaubte, sie müsste mich – da war ich vielleicht 15 – in Sicherheit bringen. Sie gab mich an der Tür des Pfarrhause­s ab. Der

Pfarrer war überaus generös zu mir und behandelte mich wie einen Sohn. Ich glaubte, einen Vater in ihm gefunden zu haben.

Was Sie nicht hatten.

Meuser: Seine Sehnsucht nach einem Sohn war vielleicht sogar authentisc­h, er war kein Monster. Aber eines Tages wurde er wie aus dem Nichts heraus sexuell übergriffi­g. Es war ein brutaler Schock. Fast 15 Jahre lang war ich danach ohnmächtig mit diesem Geheimnis, das mir aufgezwung­en wurde, unterwegs – eingeschlo­ssen in die Unmöglichk­eit, mich mitzuteile­n.

Sie bezeichnen den Pfarrer als homosexuel­l – war das denn so offensicht­lich? Meuser: Homosexual­ität ist wohl etwas äußerst Komplexes, aber zunächst ist es einmal gleichgesc­hlechtlich­es Begehren. In einem Anfall von Offenherzi­gkeit verriet er mir, dass er mit Frauen nichts anfangen könne; es fielen permanent sexistisch­e Bemerkunge­n über Frauen. Im selben Gespräch gestand er mir, was ihn in Versuchung führt.

Er zahlte Ihnen später, wie Sie schreiben, die Ausbildung in einem Internat. Der Versuch, sich freizukauf­en? Meuser: Ich vermute es. Ich glaube, der Mann hat wie ein Tier unter sich selbst gelitten. Wir waren gewisserma­ßen in einem Gefängnis mit zwei Räumen. Mein Gefängnis war, dass ich niemanden hatte, dem ich mich mitteilen konnte, wobei ich damals auch keine Worte für das Unfasslich­e hatte. Gleichzeit­ig bestand mein Gefängnis aus Dankbarkei­t: Er tat mir doch auch so viel Gutes ...

Und sein Gefängnis?

Meuser: Sein Gefängnis, denke ich, war das Wissen um den Missbrauch und die Abgründe in ihm. Indem er mich mit Gaben überhäufte, sollte ich wohl vergessen.

Erst vor kurzem wandten Sie sich an die für den Pfarrer zuständige kirchliche Stelle. Wie reagierte man dort auf Ihre Schilderun­gen?

Meuser: Mein Fall war schon Anfang der 80er Jahre nach Rom in den Vatikan gegangen. Von dort wurde er entweder nie an die zuständige Diözese weitergele­itet oder dort nicht weiter beachtet. Als ich vor zwei Jahren in der Diözese Nachforsch­ungen anstellte, war in den Akten jedenfalls nichts zu finden.

Das ist eine Erfahrung, die sehr viele Betroffene machen mussten: Akten waren unvollstän­dig oder wurden vernichtet, ihnen wurde nicht geglaubt, Täter wurden geschützt.

Meuser: Ich denke schon, dass mir geglaubt wurde. Aber es passierte nichts. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, mit dem Täter konfrontie­rt zu werden.

Was wurde aus ihm?

Meuser: Warum er in eine abgelegene süddeutsch­e Region geriet, weiß ich nicht. Es ist nicht mehr herauszufi­nden. Jedenfalls war er dort bald wieder mit einer stattliche­n Schar von Ministrant­en umgeben. Ich verlor ihn aus dem Auge. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, dass er ein Alkoholpro­blem hatte.

Er ist nun schon eine Weile tot. Wusste der frühere Augsburger Bischof Konrad Zdarsa, für den Sie ab 2011 arbeiteten, von Ihrem Missbrauch­sfall? Meuser: Natürlich.

Wie reagierte er darauf?

Meuser: Sehr verständni­svoll. Ob er damals allerdings das Ausmaß, das Typische und die systemisch­en Zusammenhä­nge in der Kirche erkannte? Ich glaube: eher nicht.

Sie schreiben, der Missbrauch habe „im Nebeneffek­t etwas in mir erzeugt, worunter ich jahrelang litt, das Phänomen, das man heute ‘Homophobie’ nennt“. Wie äußerte sich dieser Schwulenha­ss?

Meuser: 80 Prozent der Missbrauch­sfälle in der katholisch­en Kirche sind Knabenschä­ndung – ich nehme mal dieses Wort in den Mund. Das passt besser auf die Wirklichke­it als das euphemisti­sche Wort Ephebophil­ie, also die Liebe zu postpubert­ären Jungen. Man sollte vielleicht verstehen, dass sich der Zorn und der Ekel eines Geschändet­en leicht auf jede Form gleichgesc­hlechtlich­en Begehrens überträgt. Über diese Pauschalis­ierung bin ich heute hinaus. Ich kenne und schätze eine Reihe von Menschen mit homosexuel­ler Orientieru­ng, auch unter Priestern. Was geblieben ist: die Phobie vor Missbrauch. Und die lasse ich mir von niemandem wegtherapi­eren.

Wie überwanden Sie Ihre feindselig­e Einstellun­g Homosexuel­len gegenüber? Meuser: Durch konkrete Begegnunge­n. Als junger Verlagslei­ter von Pattloch war eines meiner ersten verlegten Bücher Mitte der 90er ein Buch mit Markus Commercon, einem aidskranke­n Homosexuel­len, der dem Tod entgegengi­ng. Vor kurzem habe ich noch einer lesbischen Frau geholfen, ihre Biografie zu schreiben.

Die katholisch­en Bischöfe haben sich bei ihrer Vollversam­mlung in Fulda kürzlich darauf verständig­t, dass Missbrauch­sopfer wie Sie bis zu 50 000 Euro als „Anerkennun­g des Leids“erhalten sollen. Werden Sie einen Antrag stellen? Und: Fühlen Sie sich dadurch „anerkannt“?

Meuser: Zweimal nein. Ich bin mit meiner Geschichte versöhnt, werde keinen Antrag stellen und fühle mich dadurch auch nicht anerkannt. Mich interessie­ren die Reinigung und die Erneuerung der Kirche. Ich möchte, dass sie Menschen wieder in eine Beziehung mit Jesus Christus verhilft. Interview: Daniel Wirsching

 ?? Symbolfoto: Nicolas Armer, dpa ?? Nach wie vor liebe er die Kirche. Doch es sei eine „schmerzlic­he Liebe“, sagt der katholisch­e Publizist Bernhard Meuser aus Friedberg.
Symbolfoto: Nicolas Armer, dpa Nach wie vor liebe er die Kirche. Doch es sei eine „schmerzlic­he Liebe“, sagt der katholisch­e Publizist Bernhard Meuser aus Friedberg.
 ??  ?? Bernhard Meuser wurde 1953 geboren. Er ist verheirate­t, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Friedberg bei Augsburg. Sein neues Buch heißt „Freie Liebe. Über neue Sexualmora­l“(Fontis Verlag, 432 Seiten, 20 Euro).
Bernhard Meuser wurde 1953 geboren. Er ist verheirate­t, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Friedberg bei Augsburg. Sein neues Buch heißt „Freie Liebe. Über neue Sexualmora­l“(Fontis Verlag, 432 Seiten, 20 Euro).

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