Ein Land zerstört sich selbst
Vor zwei Monaten erschütterte eine gigantische Explosion den Libanon. Die Trümmer im Hafenviertel von Beirut sind ein Symbol dafür, wie kaputt die Nation ist. Sina Schweikle will trotzdem bleiben. In einem Land, in dem es keine Zukunft gibt
Beirut Durch ihr Büro und die Wohnung pfeift immer noch der Wind. Auch zwei Monate nach der gigantischen Explosion in der libanesischen Hafenmetropole Beirut fehlen die Fenster. Und das, obwohl der Vermieter eigentlich so zuverlässig ist. Sina Schweikle klingt trotzdem ziemlich gelassen, wenn sie darüber spricht, dass sie momentan den Großteil ihres Alltags arbeitend in einem Café, die Nächte im Hotel oder in den Gästebetten von Freunden verbringt. „Ich denke jeden Tag daran, wie viel Glück ich hatte“, sagt die 31-Jährige, die seit einem Jahr im Libanon lebt und für die Münchner Hilfsorganisation Orienthelfer arbeitet. Sie weiß, dass sie viel mehr hätte verlieren können als ihre vier Wände. Ihre Wohnung und das Büro liegen nur ein paar hundert Meter vom Explosionsort entfernt. Doch bis auf einige Glasscherben im Rücken, eine kleine Verletzung an Fuß und Finger blieb Sina Schweikle unversehrt.
In Europa wurde der Blick der meisten Menschen erst durch den Knall der Explosion auf den Libanon gelenkt. Sina Schweikle aber sagt: „Die Explosion ist nur das i-Tüpfelchen. Die Situation im ganzen Libanon war schon vorher dramatisch. Das Land steuert auf eine humanitäre Katastrophe zu.“
Im Internet teilen tausende der sechs Millionen Libanesen ihre Sorgen, alle versehen mit dem Hashtag:
„Wir fahren zur Hölle.“Sie sind wütend, weil bei der Untersuchung der Explosionsursache nichts vorangeht. Internationale Ermittler lehnten die libanesischen Machthaber ab. Die von ihnen kontrollierte Justiz hüllt sich in Schweigen. 25 Hafenleute sitzen in Haft – doch kein einziger der verantwortlichen Politiker, die die Warnungen vor dem gefährlichen Depot mit giftigen Chemikalien jahrelang ignorierten.
„Wir fordern Antworten“schrieben Familien, die mit Fotos gestorbener Angehöriger in den Straßen demonstrierten, auf ihre Plakate. Fast 200 Menschen kamen am 4. August ums Leben, neun sind noch vermisst. 85 000 Wohnungen hat das libanesische Militär mittlerweile untersucht und die Schäden dokumentiert. Demnach gingen neben Sina Schweikles Fensterscheiben mindestens 1,2 Millionen weitere zu Bruch. Ein Viertel aller Schüler hat kein Klassenzimmer mehr, in dem Unterricht stattfinden könnte.
Die Organisation Orienthelfer richtet zerstörte Wohnungen wieder her, zudem ein Hotel, in das zumindest einige der 300000 obdachlos gewordenen Menschen ziehen können. Der Münchner Kabarettist Christian Springer war es, der Orienthelfer 2012 gegründet hat. Gerade erst ist er mit einem der größten Frachtflugzeuge der Welt, einer Antonow 124, in den Libanon geflogen, um acht Ambulanzen für die Retter dort abzuliefern.
Sina Schweikle ist wieder mal auf
Weg zu einem Organisationstermin. Wie eigentlich ständig in den vergangenen zwei Monaten. Das Handymikrofon fängt den Straßenlärm Beiruts ein, alle paar Minuten begrüßt die 31-Jährige jemanden und fragt, wie es ihm geht.
Sina Schweikle erinnert sich noch, wie sie mit dem Taxi regelmäßig durch das Hafenviertel fuhr. Durch Beirut, die Kultur- und Partystadt des Nahen Ostens, mit himmelhoch glänzenden Häusern und seiner Altstadt, wo jetzt reihenweise die Dächer abgedeckt sind. Heute, nach der Explosion, denkt Schweikle beim Anblick des Hafenviertels an „Armageddon“. Der Film, ein Klassiker aus dem Jahr 1998, handelt davon, wie die Erde kurz vor der Zerstörung durch einen Asteroiden steht. Im Libanon ist vieles zerstört, nicht nur durch die Explosion. Das Land zerstört sich selbst.
Das merkt man eben schon beim Taxifahren. Früher war es Alltag – wie Busfahren in Deutschland. Heute nicht mehr. Die Preise haben sich verfünffacht. Die Inflation ist eins der großen Probleme im Land und ein Symptom für die Misswirtschaft, die dort regiert.
„Viele Menschen können sich das Leben nicht mehr leisten“: Sina Schweikle sieht es jeden Tag. „Jetzt wird hier noch Obst und Gemüse aber bald kommt der Winter. Wegen der Inflation sind die Lebensmittelpreise hoch. Es gibt kein funktionierendes Stromsystem. Fällt der Strom aus, muss man Aggregate nutzen. Die laufen mit Diesel. Aber Diesel ist teuer. Menschen haben kein Geld, um zu heizen. Und die Regierung interessiert das am wenigsten. Die Menschen haben das Gefühl, dass hier ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt wird.“
So katastrophal die Detonation am 4. August war, sie ist nur ein Kadem pitel in der beispiellosen Multikrise des Zedernstaates. Seit Oktober 2019 werden auf Massenprotesten das Ende des religiös-konfessionellen Proporzsystems und ein fundamentaler Neuanfang gefordert. Den Staatszerfall ins Rollen brachte letzten Herbst der Kollaps des Bankensektors, über den die politische und wirtschaftliche Elite jahrzehntelang ihre eigene Nation ausplünderte. Staatsanleihen finanzierte die libanesische Zentralbank über die örtlichen Privatbanken, die dafür exorangebaut, bitante Zinsen kassierten. Dieses Schneeballsystem machte einheimische Finanz-Oligarchen reich und lockte einen ständigen Strom ausländischer Devisen an.
Heute gehört der Libanon mit 170 Prozent des Bruttosozialprodukts zu den Rekordschuldnern des Globus. Das entspricht einer Summe von mindestens 90 Milliarden Dollar. Als der toxische Devisenzufluss vor einem Jahr plötzlich versiegte, brach das finanzielle Kartenhaus zusammen. Der Wechselkurs des libanesischen Pfunds zum Dollar ging auf Talfahrt. Gehälter, Renten und Spareinlagen verloren seitdem 85 Prozent ihres Wertes. Experten schätzen, dass sich mindestens 60 Milliarden an privaten Dollarguthaben in Luft aufgelöst haben.
Mehr als 50 Prozent aller Libanesen lebt mittlerweile in Armut, während es im Jahr zuvor noch 28 Prozent gewesen waren. Die Steuermoral ist obszön gering – vor allem in den Superluxus-Kreisen. Deren Sozialbewusstsein hat auch kein Problem damit, die Hälfte der Bevölkerung einfach ihrem Elend zu überlassen. Gleichzeitig gerät die Corona-Pandemie zunehmend außer Kontrolle. Seit zwei Wochen melden die Gesundheitsbehörden über tausend Neuinfektionen pro Tag, das entspräche in Deutschland einer Rate von fast 14 000.
Von Corona spricht Sina Schweikle, die aus Dornstetten in Baden-Württemberg stammt, am Telefon gar nicht. Die Menschen fliehen im Libanon nicht vor dem Virus, sie fliehen vor der Zukunft in einem Land, in dem es – so empfindet es auch die Deutsche – keine Zukunft gibt. „Viele junge Menschen wollen weg – oder sind auch schon weg. Bekannte haben mir erzählt, dass sie gerade jede Woche auf eine Abschiedsparty gehen von Leuten, die das Land verlassen. Eltern schicken ihre Kinder ins Ausland, wenn sie Verwandte dort haben.“
In keiner Region der Welt existieren größere Gegensätze zwischen Arm und Reich. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron etwa konnte deswegen nach der Explosion seine Empörung nicht mehr diplomatisch zügeln. Er schäme sich für die politischen Führer des Libanon, polterte er im September im fernen Élysée-Palast. Ein paar Dutzend Menschen seien heute dabei, den Libanon zu Fall zu bringen, weil sie „ihre parteiischen und individuellen Interessen über das allgemeine Interesse des Landes“stellten. Ende Oktober will Macron zusammen mit den Vereinten Nationen eine globale Geberkonferenz organisieren, um Milliardenhilfen einzuwerben.
Die alte Regierung des Libanon ist nach der Detonation zurückgetreten. Eine neue ist nicht in Sicht. Der designierte Premierminister
Mustapha Adib, vor seiner Nominierung Botschafter in Deutschland, warf vergangenen Samstag die Brocken hin. Vier Wochen lang hatte er vergeblich versucht, ein parteiübergreifendes Reformkabinett auf die Beine zu stellen und damit den Staatszerfall zu stoppen. Auslöser seines Scheiterns waren die beiden schiitischen Parteien Amal und Hisbollah. Sie pochten auf das Finanzministerium, das sie seit zehn Jahren kontrollieren und das in der gegenwärtigen Finanzund Wirtschaftskrise eine Schlüsselrolle spielt.
Und so stellte Emmanuel Macron den Funktionären des Mittelmeeranrainers am vergangenen Sonntag ein Ultimatum bis Mitte November. Dann soll die Regierung stehen. „Es ist an den politischen Repräsentanten des Libanon, diese letzte Chance zu nutzen“, erklärte er. Ob danach über Sanktionen verhandelt wird, ließ er offen.
Sina Schweikle könnte jederzeit ihren deutschen Reisepass zücken und gehen. „Ein Freund fragt mich jeden Tag: Sina Maria, warum bleibst du?“Beirut sei für sie zum Zuhause geworden, sagt sie dann. „Ich habe hier Freunde gefunden, tolle Leute. Ich finde es wichtig, hierzubleiben und die Menschen zu unterstützen.“
Wie es weitergehen wird im Land ohne Zukunft? Woher sollte sie es wissen. „Man weiß im Libanon nie, was kommt. Man lebt von heute auf morgen.“
Ein Frachtflugzeug bringt acht Rettungswagen
Mitte November läuft ein Ultimatum aus