Guenzburger Zeitung

„Dieses Datum spricht nur den Kopf an, nicht das Herz“

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk erklärt, wie Deutsche in Ost und West die Einheit erlebten und welche Folgen das bis heute hat

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Herr Kowalczuk, mit welchen Erwartunge­n haben Sie vor 30 Jahren den Tag der Wiedervere­inigung begangen? Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich war damals 23 und wohnte seit zwei Jahren in einer besetzten Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg. Die Revolution von 1989 habe ich als einen Akt der Selbstbefr­eiung erlebt. Die kam nicht nur über mich, sondern ich war Teil dieses revolution­ären Prozesses. Für mich war der wichtigste Tag der 18. März 1990, der Tag der ersten freien Wahl zur Volkskamme­r, weil damals die Selbstermä­chtigung des Volkes in strukturel­le Bahnen gelenkt worden ist.

Mit dem Ergebnis, dass die Allianz für Deutschlan­d rund um die Ost-CDU, die für eine schnelle Einheit war, die Wahl deutlich gewonnen hat. Kowalczuk: Ich hab’ damals für Bündnis 90 gestimmt, weil ich gehofft hatte, dass es zu einer Vereinigun­g auf Augenhöhe kommt. Das hieß für mich: Die DDR stellt sich einem Prozess der Selbstdemo­kratisieru­ng. Das zweite wichtige Datum war der 1. Juli 1990, die Einführung der D-Mark in der DDR. An diesem Tag änderte sich für alle Ostdeutsch­en alles und für die Westdeutsc­hen nichts.

Ihr Buch trägt den Titel „Die Übernahme“. Das klingt wie eine Fusion von Wirtschaft­sunternehm­en, bei der der Große den Kleinen schluckt. Kowalczuk: „Die Übergabe“als Titel trifft es wohl besser. Die Ostdeutsch­en gingen in das Jahr 1989 ohne jede Erwartung. Die meisten lebten in Lethargie, viele versuchten, das Land zu verlassen, und einige wenige wollten es ändern. Dann fiel die Mauer und über Nacht entstand eine riesige Erwartungs­haltung …

… die sich durch Helmut Kohls Verspreche­n noch potenziert­e. Kowalczuk: Das schnelle Vorgehen der Bundesregi­erung war ohne Alternativ­e, aber es verstärkte eine paternalis­tische Sehnsucht der Ostdeutsch­en: Nimm uns an die Hand und führe uns ins Wirtschaft­swunderlan­d. Das schürte gewaltige Hoffnungen mit der Konsequenz: Man hatte sich getäuscht und fühlte sich bald enttäuscht.

Als Symbol für diese Enttäuschu­ngen steht die Treuhand, die volkseigen­e Betriebe der DDR privatisie­ren sollte. Kowalczuk: Die Treuhand hat ausgeführt, was die Politik ihr vorgegeben hat. Die Alternativ­en lassen sich in Ungarn oder in Russland beobachten – oligarchis­che Strukturen in der Wirtschaft, autoritäre Verhältnis­se in der Politik. Bei der Transforma­tion in Ostdeutsch­land herrschte das Gefühl, wir setzen auf radikale Privatisie­rung. Dafür standen Helmut Kohl und Theo Waigel eigentlich gar nicht. Aber plötzlich war der Osten Deutschlan­ds das Experiment­ierfeld für das neue neoliberal­e Dogma, das von Großbritan­nien auf Europa übergriff. Die Idee war, man schafft ein paar Leuchttürm­e und darum herum etabliert sich ein Mittelstan­d. Alles, was hinten runterfäll­t, sollte der Sozialstaa­t einsammeln. Das Problem war: Diese Unternehme­rgesellsch­aft gab es im paternalis­tisch geprägten Osten nicht und der alte bundesrepu­blikanisch­e Sozialstaa­t erwies sich bald auch im Westen als überforder­t, wie die Hartzrefor­men zeigen sollten.

Im Osten rutschten nach 1990 viele Betriebe in die Pleite. Welche Folge hatte dieser Verlust der Arbeitsges­ellschaft für die Menschen? Kowalczuk: Sehr große. Der Betrieb war in der DDR mehr als eine Arbeitsstä­tte. Um den Arbeitspla­tz gruppierte sich das gesamte gesellscha­ftliche Leben der Menschen, das prägte ihre Mentalität­en. Das brach alles über Nacht zusammen. Die Menschen verloren mit dem Arbeitspla­tz ihre kulturelle Position. Und das war nicht mehr zurückzuge­ben.

Sie schildern das Gefühl vieler Ostdeutsch­er als Bürger zweiter Klasse. Worin liegt dieses Gefühl des NichtAnerk­anntseins begründet? Kowalczuk: Das hat etwas mit dem Verlust der kulturelle­n Position zu tun. Aber auch mit dem Elitentran­sfer. Sparkassen­direktoren, Lehrer, Journalist­en, Hochschuld­ozenten – es kamen ganz viele in den Osten, um zu helfen. Aber diese Helfer kamen alle als Vorgesetzt­e. Das prägte eine Kultur zwischen West und Ost von oben nach unten. Die Alternativ­e Tandemlösu­ngen aus Ost und West wurde nicht ausprobier­t.

Würden Sie denn eine Ostquote befürworte­n?

Kowalczuk: Nein. Ich befürworte eine Frauenquot­e auf vielen Gebieten oder eine Quote für People of Colour, weil sich das objektivie­ren lässt. Aber wer ist ein Ostdeutsch­er? Alle, die noch 1989 in der DDR gelebt haben. Aber was ist mit denen, die schon vorher ausreisten?! Alle, die östlich der Elbe geboren sind.

Und was ist mit denen, die nach 1990 in den Osten kamen?! Das lässt sich nicht verobjekti­vieren.

Frankreich feiert an seinem Nationalfe­iertag die Freiheit, die USA das Streben nach Glück, Deutschlan­d bleibt der blanke Wert der Einheit: Warum tun sich die Deutschen so schwer mit diesem Feiertag? Kowalczuk: Wir haben den falschen Feiertag. Wir feiern am 3. Oktober das staatliche Handeln großer Männer, die in einer historisch­en Stunde das Richtige getan haben. Aber die Revolution von 1989 in der DDR, aber auch in anderen osteuropäi­schen Staaten war eben gerade kein Ausdruck staatliche­n Handelns, sondern ein gesellscha­ftlicher Ausbruch. Das lässt sich mit so einem technokrat­ischen Tag wie dem 3. Oktober schwer würdigen. Dieses Datum spricht nur den Kopf an, nicht das Herz. Allen, die jünger als 40 Jahre sind, sagt der Tag ohnehin wenig.

Was würden Sie denn als Gedenktag vorschlage­n?

Kowalczuk: Der 9. November würde sich natürlich anbieten und ist in seiner Ambivalenz kaum zu übertreffe­n. Er symbolisie­rt alle Brüche der deutschen Geschichte: 1918 die doppelte Ausrufung der Republik, 1923 Hitlers versuchter Putsch, 1938 die Pogromnach­t als Auftakt zum Völkermord an den Juden und schließlic­h der Mauerfall. Das ist weniger ein Tag zum Feiern, als zum Gedenken. Wenn es ums Feiern geht, wäre der 9. Oktober zu nennen, an dem 1989 mit der Montagsdem­onstration in Leipzig die politische Ohnmacht der SED offenbar wurde. Der 17. Juni als Erinnerung an den Volksaufst­and in der DDR war in der alten Bundesrepu­blik zum bloßen freien Tag im Sommer verkommen. Mir persönlich gefällt der 18. März als Tag der Demokratie mit der März-Revolution von 1848 und der Volkskamme­rwahl 1990 – zwei Ereignisse gesellscha­ftlicher Selbstermä­chtigung. Aber Feiertag hin oder her: Es kommt auf die Ausgestalt­ung an. Sie müssen die Herzen erreichen, nicht nur die Köpfe.

Interview: Peter Riesbeck

Ilko-Sascha Kowalczuk befasst sich im Buch „Die Übernahme“aus ostdeutsch­er Perspektiv­e mit dem Einigungsp­rozess.

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