Wenn dein Bruder vor der Tür steht, fragst du nicht, was das kostet Gastbeitrag
Theo Waigel über das Glück der Einheit und die oft unterschätzte Leistung der DDR-Bürger
Nur wenige Theologen haben sich mit dem auseinandergesetzt, was am 3. Oktober 1990 seine Vollendung gefunden hatte: die Einheit Deutschlands in Freiheit und Frieden. Einer von ihnen war Eugen Biser, der große Religionsphilosoph und Prediger von St. Ludwig in München. Über den Auferstandenen sagte er, er schreibe seine Zeichen nicht nur auf die Tafeln des Herzens, sondern nicht weniger deutlich auch an die Wände der Zeiten. Kaum einmal waren sie deutlicher zu lesen als in den Tagen des freiheitlichen Aufbruchs im Spätherbst 1989, als zusammen mit der Berliner Mauer der Eiserne Vorhang fiel und der Weg zu einer Neuordnung weit über Europa hinaus frei wurde.
30 Jahre später gilt es, Bilanz zu ziehen. Deutschland ist wiedervereinigt, eine Führungsmacht in Europa, Deutschland gehört dem Bündnis an und ist erstmals in seiner Geschichte umgeben von Freunden und Partnern. Deutschland ist eine gefestigte Demokratie, die dem Populismus widersteht und die Feinde der Demokratie konsequent bekämpft. Die Menschen sind heute zufriedener als zu jedem Zeitpunkt seit der Wiedervereinigung. Auch in den neuen Bundesländern befinden 66 Prozent der Menschen ihre wirtschaftliche Situation als gut.
In den letzten drei Jahrzehnten hat die größte solidarische Aktion auf deutschem Boden stattgefunden. Über zwei Billionen Euro sind für die Wiedervereinigung aufgewendet worden. Der größere Teil davon waren Aufwendungen für soziale Maßnahmen, um den Menschen den Übergang in eine freie Gesellschaft mit Wettbewerbsdruck zu erleichtern. Zudem haben wir in dieser Zeit die Voraussetzungen für einen großen Schritt in der europäischen Entwicklung erreicht, nämlich die gemeinsame europäische Währung, den Euro. Trotz dieser Anstrengungen stehen wir besser da als fast alle unsere Nachbarn. Das sollte uns dankbar stimmen. Doch Dankbarkeit ist keine sehr verbreitete Tugend weder im Kleinen noch im Großen, weder theologisch noch politisch.
Was die Kosten anbelangt, erinnere ich an ein Wort von Ernst Jünger: „Wenn dein Bruder vor der Tür steht, lässt du in rein und fragst nicht, was das kostet.“Vielleicht haben wir die Leistung der mutigen Bürgerinnen und Bürger in der DDR zu wenig gewürdigt. Wir hätten auch den Zustand der Volkswirtschaft und der Betriebe als Folge eines verfehlten kommunistischen Wirtschaftssystems noch stärker darstellen sollen. Die letzte volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der DDR wurde Honecker und Krenz vorgelegt, wonach der Lebensstandard der Bevölkerung in der DDR um 25 bis 30 Prozent gewestlichen senkt werden müsse. Eine ehrliche Gegenrechnung enthält auch eine weitgehend unbekannte Komponente. Von 1949 bis 1989 sind über drei Millionen Menschen von Ost nach West gegangen. Danach war es noch mal eine Million Menschen. Diese Bürger aus Ostdeutschland haben im Westen Deutschlands zur Steigerung der Wirtschaftskraft und des Bruttosozialprodukts erheblich beigetragen.
Dieser 3. Oktober 2020 ist ein Tag des Glücks und der Dankbarkeit. Als ich damals mit Bundeskanzler Helmut Kohl in den Kaukasus flog, übergaben in Tracht gekleidete Frauen Gorbatschow und Kohl je einen Laib Brot und Salz. Gorbatschow nahm das Brot, bestreute es mit Salz und gab es weiter. Helmut Kohl nahm den Brotlaib in seine Hände, machte ein Kreuz darauf und sagte, das habe seine Mutter auch immer so gemacht. Gorbatschow sah bewegt zu. Er hat in dieser Zeit Helmut Kohl und
Willy Brandt mehr vertraut als Erich Honecker. Er hat es abgelehnt, die Panzer aus den Kasernen zu dirigieren und die kerzentragenden Demonstranten zu attackieren. Er hat lieber den Verlust der Macht in Kauf genommen, als seine Politik der Perestroika und Glasnost aufzugeben. So wird er zum
Helden in der Geschichte. Neben ihm steht der amerikanische Präsident George Bush, der uns in jeder Phase der Wiedervereinigung unerschütterlich begleitete. Im übrigen Westen hatte man sich mit den zwei deutschen Staaten abgefunden. Als ich im September 1989 auf eine Frage nach der Zukunft Deutschlands antwortete: „Deutschland steht auf der Tagesordnung der Weltpolitik“, gab es eine Flut negativer Kommentare.
Es waren die friedlichen Demonstrationen in Ungarn und Polen, der Mut der Solidarnosc, der auch vielen Bürgern in der DDR die Kraft verlieh, in Leipzig und anderen Städten mit Kerzen ihre Freiheitsliebe zu zeigen.
Der englische Historiker Garton Ash sagt in einem Interview zum 3.Oktober 2020: „Weiter so, Deutschland, weiter mit der Kontinuität im Guten.“Besser kann man unseren Auftrag für die Zukunft nicht beschreiben.