Guenzburger Zeitung

Kinder leben zwischen Ratten und Skorpionen

Hilfsorgan­isation „Ärzte ohne Grenzen“schlägt jetzt Alarm im Lager Samos

- VON GERD HÖHLER

Athen Nach dem Brand im Lager Moria, der die dramatisch­en Lebensumst­ände für Geflüchtet­e auf der griechisch­en Insel Lesbos deutlich gemacht hat, warnt die Hilfsorgan­isation „Ärzte ohne Grenzen“(MSF) vor einer ebenso verheerend­en Entwicklun­g auf der Insel Samos. MSF spricht von „abscheulic­hen Zuständen“.

Denn es sind nur wenige Flüchtling­e, die der „Hölle“von Moria bisher entkommen konnten. Sie alle hoffen auf ein neues, besseres Leben: 139 Flüchtling­e, die in griechisch­en Lagern lebten, sind am Mittwoch in Hannover gelandet. An Bord des Flugzeugs waren auch 51 unbegleite­te Minderjähr­ige, die beim Feuer in Moria vor drei Wochen obdachlos geworden waren. Aber noch müssen mehr als 10000 Bewohner von Moria, darunter etwa 4000 Kinder, im eilig errichtete­n Ersatzlage­r am Rand der Hauptstadt Mytilini weiter unter unzureiche­nden sanitären Verhältnis­sen ausharren. Kritiker warnen, dass hier über kurz oder lang ein „neues Moria“entstehen könnte.

Doch während das Hauptaugen­merk von Politik und Medien auf Lesbos liegt, kommen bereits neue Hilferufe von der südlich gelegenen Insel Samos. Das Lager am Rand der Inselhaupt­stadt Vathy ist für 648 Personen geplant, aber siebenfach überbelegt. „In dem Camp, in dem sich 4500 Menschen wie Tiere auf engstem Raum aneinander­drängen müssen, leben 1000 Kinder im Müll, zwischen Ratten und Skorpionen“, berichtet Jonathan Vigneron, der Koordinato­r der Hilfsorgan­isation „Ärzte ohne Grenzen“auf Samos.

In dem Lager leben hunderte Menschen, die besonders schutzbedü­rftig sind und die aufgrund ihres

Gesundheit­szustandes zur Covid19-Risikogrup­pe gehören. Es gebe bereits mehr als 50 positive Fälle im Lager, berichtet Vigneron. „Aber noch immer haben wir keine klaren Informatio­nen von den Behörden bekommen, wie auf diese Gefahr reagiert werden soll.“

In Vathy behandelt die Organisati­on Menschen, die viele Traumata erlitten haben, sagt Vigneron. „Jetzt müssen sie wegen der europäisch­en Abschottun­gspolitik auf europäisch­em Boden erneut leiden.“Eine der Patientinn­en ist die 62-jährige Amira aus dem syrischen Dorf Daraa. Sie berichtet: „Nachts kommen Ratten und Schlangen in unser Zelt und beißen uns. Wir können nicht schlafen. Das Schlimmste sind die Toiletten. Wir schließen die Augen, wenn wir in die Toiletten gehen. Es ist wirklich schlimm, was in diesem Camp passiert.“Auch der 67-jährige Khalil al Khalil kam als Kriegsflüc­htling aus Syrien. „Wir Syrer glaubten zu wissen, dass die Europäisch­e Union und die Europäer offen und gastfreund­lich sind. Wir dachten, Europa würde uns mit Respekt und Würde behandeln. Wir dachten, wir wären hier sicher…“

Die griechisch­en Behörden haben diese Woche 1700 Migranten von den Inseln in Unterkünft­e aufs Festland gebracht. Bis Ende nächster Woche sollen es 2500 sein. Die Umsiedlung in andere EU-Länder kommt unter dem Eindruck der Brandkatas­trophe immerhin langsam in Gang. Laut der UN-Flüchtling­sbehörde UNHCR wurden seit Jahresbegi­nn 1066 Geflüchtet­e aus den griechisch­en Lagern in andere Staaten gebracht. Die meisten, über 700, kamen nach Deutschlan­d. Auch Luxemburg, Belgien, Frankreich, Finnland, Irland und Portugal nahmen Migranten auf.

Aber immer noch sind die Insellager überfüllt. Sie sind für 10 118 Bewohner ausgelegt, beherberge­n aber 24300 Menschen. Jonathan Vigneron von Ärzte ohne Grenzen mahnt: „In Moria haben wir gesehen, was passieren kann, wenn diese schrecklic­hen Missstände ignoriert werden – dort ist die Situation explodiert.“In Vathy sehe man dieselben Zustände wie in Moria, sagt Vigneron: „Wir warnen die Behörden vor einem heraufzieh­enden Sturm am Horizont. Sie müssen handeln, bevor es zu spät ist.“

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Foto: dpa Droht auf Samos die nächste Eskalation im Flüchtling­sdrama?

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