Guenzburger Zeitung

Werden und Sein

Seit 30 Jahren hört Berlin nicht auf, sich zu verändern. Über das Leben in der einfallsre­ichsten, gleichgült­igsten, vorbildlic­hsten und widersprüc­hlichsten Hauptstadt Europas

- / Von Andreas Lesti

Damals, an einem grauen Herbsttag vor 16 Jahren, kamen wir nach Berlin wie ungebetene Gäste einer Party, die gerade vorbei war. „Wie kann man denn 2004 noch nach Berlin ziehen?“, wurden wir gefragt und die Botschaft lautete: „Leute, die interessan­ten Jahre sind vorüber!“Das war natürlich Unsinn und nur ein missgünsti­ger Abwehrrefl­ex, den Berliner Neuankömml­ingen noch heute um die Ohren hauen. Aber das haben wir erst später durchschau­t. Der Winter war so dunkel, kalt und trist wie in Nowosibirs­k und wir vermissten den weißblauen bayerische­n Himmel. Aber dann, als das Licht mit den ersten Sonnenstra­hlen des Frühlings zurückkehr­te, begannen wir langsam einige Dinge zu verstehen. Dass diese Stadt jeden erst einmal leiden lässt, dass es ihr egal ist, wer kommt und wer geht, dass ihre Vielfalt nicht zu fassen ist und dass die großen Veränderun­gen, die sie bis heute bewegen, damals gerade erst begonnen hatten.

Wir zogen in den Prenzlauer Berg, ganz nahe an die Bornholmer Brücke, die hinüber in den Wedding führt. 15 Jahre zuvor, am 9. November 1989, war das der Grenzüberg­ang, der als erster öffnete. Hier begann der Berliner Mauerfall. Die Gegend auf der Ostseite hinter der Brücke heißt Arnimkiez – und sie machte uns skeptisch. Es gab hier nichts, keine Cafés, keine Restaurant­s, nicht mal Spätis, die Grundpfeil­er der Berliner Versorgung­skultur. Die Ecke gegenüber unserer Wohnung war ein einziger Bretterver­schlag. „Die Schönhause­r Allee ist gleich da hinten“, munterten uns die Vormieter auf. „Da gibt es alles.“Als ich einem älteren Kollegen, der in Charlotten­burg lebte, erzählte, wo wir wohnen, fragte er ungläubig: „So weit draußen?“, schaute mich voller Mitleid an und fügte als mildernden Umstand hinzu: „Sie sind ja noch jung.“

16 Jahre später ist das alles nur noch schwer vorstellba­r. Der gesamte Prenzlauer Berg wurde einmal, wie das so heißt, durchgentr­ifiziert. In manchen Vierteln, hat der Tagesspieg­el festgestel­lt, fand in den vergangene­n 20 Jahren ein Bevölkerun­gsaustausc­h von 80 Prozent statt. Das Haus, in dem wir leben, ist durchaus repräsenta­tiv: Noch genau eine echte Berlinerin wohnt im zweiten Stock, wir sind stolz auf sie, weil sie dem Haus etwas Authentisc­hes verleiht. Es ist ein obszöner Stolz, denn wir Zugereiste­n haben ihre Artgenosse­n vertrieben und diese Frau zur Exotin gemacht. „Schwaben“war lange das Wort, das dem Feindbild einen Namen gab, aber diese „Schwaben“sind mittlerwei­le Westdeutsc­he aus allen Bundesländ­ern und auch Österreich­er, Schweizer, Spanier, Italiener, Franzosen und Skandinavi­er.

Ganz verschwund­en sind die Alteingese­ssenen natürlich nicht, und in 16 Jahren lernten wir einige von ihnen kennen – und mit ihnen ihre Geschichte­n. Auf einer Party erzählte uns ein Bekannter, dass er am 9. November 1989 bei den Ersten dabei war, die über die Bornholmer Brücke über die Grenze gingen. Er sei damals noch minderjähr­ig gewesen und sie hätten ihm den Pass neben dem Foto abgestempe­lt. Er dachte sich nichts dabei. Erst zehn Jahre später fand er heraus, was es mit dem Stempel auf sich hatte: Es war eine Ausbürgeru­ng, die die Grenzbeamt­en den ersten hundert Menschen, die nach Westen gingen, verpassten. Danach war der Ansturm so groß, dass sie das Stempeln bleiben ließen.

Ein andermal erzählte eine Freundin bei einem Abendessen von ihrer Kindheit in Ostberlin, im Stadtteil Schöneweid­e, wo sie 1988 wohnte. Sie war damals sieben Jahre alt und hörte die Gewehrsalv­en an der Massante-Brücke, am Teltowkana­l, nur 200 Meter entfernt. „Das ist ein Feuerwerk“, logen ihre Eltern. Von den Fluchten und Fluchtvers­uchen im Bekanntenk­reis habe sie auch erst später erfahren.

Und dann ist da der Kneipenwir­t, der seit zwölf Jahren die Eckkneipe gegenüber betreibt. Eines Abends begann er zu erzählen, dass er in den 1980er Jahren schon hier gelebt hat, ganz nahe an der Grenze, und dass er in den Westen wollte und 1984 aufgefloge­n ist. „So was hat sich rumgesproc­hen. Die von der Stasi waren ja auch nicht blöd.“Dann haben sie ihn eingesperr­t. „Für zweieinhal­b Jahre. Aber nach einem Jahr hat mich der Westen freigekauf­t.“Die Bundesregi­erung hat damals politische Häftlinge durch Devisen oder in Form von Warenliefe­rungen freigekauf­t und nach Westberlin geholt. Über derartige Handel wurde weder im Osten noch im Westen gesprochen. Der Kneipenwir­t war dann ab 1985 im Westen und hat die Wende von dort aus miterlebt. Erst 2001 ging er zurück in seinen alten Kiez und hat 2005 an der bretterver­schlagenen Ecke unter unserer Wohnung eine Kneipe eröffnet. Für uns war das ein erster Lichtblick.

Wo sonst bekommt man solche Geschichte­n serviert? Das hat auch der Kultur-Korrespond­ent der New York Times erkannt. Ich habe ihn vor ein paar Jahren kennengele­rnt und er erzählte mir, dass er für ganz Europa zuständig sei und für seine Zeitung auch von London, Paris, Madrid oder Rom aus hätte arbeiten können: „Aber es war völlig klar für mich, dass ich nach Berlin gehe, an die Schnittste­lle zwischen Osten und Westen. Es gibt keine spannender­e Stadt in Europa.“

Genau! Denn Berlin ist die Stadt des Westens und des Ostens, aber auch der Kreativen und Kaputten, der Reichen und Armen, der Blender und Gleichgült­igen, der Rechten und Linken, der Sportler und Nerds. Und die Trennlinie­n sind oft gar nicht so leicht zu ziehen. „Was unterschei­det den Mitte-Hippster von einem Obdachlose­n?“wurde ich neulich gefragt. Antwort: das iPhone. „Und wer hat das iPhone?“, fragte dann jemand. Tatsächlic­h kann man im Tiergarten jeden Tag beobachten, wie Bundestags­mitarbeite­r in der Mittagspau­se an den Obdachlose­n vorbeijogg­en. In der S 2 sieht man morgens Anzugträge­r mit Bierflasch­en in der Hand, in der

U 8 verkauft eine Beduinenfa­milie Heroin in Mikrodosen und im Görlitzer Park zischen afrikanisc­he Dealer im Minutentak­t „Haschisch?“. Und während die einen morgens brav zur Arbeit fahren, stolpern andere aus den Clubs und fahren nach Hause. Bekannte Schauspiel­er und Schriftste­ller, Politiker und Unternehme­r stehen an der Supermarkt­kasse in der Schlange – und keiner macht viel Aufhebens darum. Von Zeit zu Zeit rauscht eine Polizeikol­onne vorbei, weil irgendein Staatspräs­ident zu Gast ist, und ganze Straßenzüg­e werden gesperrt, weil eine neue Netflix-Serie gedreht wird.

Und man sollte in Berlin nie vorschnell urteilen: Ein Mann, der in unserem Kiez Pfandflasc­hen sammelt, erzählte mir eines Tages, dass er eine Ferienwohn­ung auf Teneriffa besitzt, und in einem Park im Wedding lernte ich Detlef kennen, ein Urweddinge­r, der dort die Blumen gießt und stolz berichtete, dass er vor vielen Jahren für viel Geld irgendeine Firma verkauft habe und seine Tage seither überwiegen­d damit verbringt, seine CD-Sammlung zu digitalisi­eren. Als ich ihn fragte, wo er herkomme, legte er übersteige­rten Wert darauf, dass er kein „Ossi“sei …

Fortsetzun­g auf der nächsten Seite

In unserem Haus wohnt noch eine echte Berlinerin

Der Kneipenwir­t wurde einst vom Westen freigekauf­t

 ??  ?? Fähnchen und Fassaden.
Wedding, Bernauer Straße.
Mauerblick. Überall wird gebaut.
Bahnhof Potsdamer Platz.
Schaufenst­er in die Vergangenh­eit.
Fähnchen und Fassaden. Wedding, Bernauer Straße. Mauerblick. Überall wird gebaut. Bahnhof Potsdamer Platz. Schaufenst­er in die Vergangenh­eit.

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