Werden und Sein
Seit 30 Jahren hört Berlin nicht auf, sich zu verändern. Über das Leben in der einfallsreichsten, gleichgültigsten, vorbildlichsten und widersprüchlichsten Hauptstadt Europas
Damals, an einem grauen Herbsttag vor 16 Jahren, kamen wir nach Berlin wie ungebetene Gäste einer Party, die gerade vorbei war. „Wie kann man denn 2004 noch nach Berlin ziehen?“, wurden wir gefragt und die Botschaft lautete: „Leute, die interessanten Jahre sind vorüber!“Das war natürlich Unsinn und nur ein missgünstiger Abwehrreflex, den Berliner Neuankömmlingen noch heute um die Ohren hauen. Aber das haben wir erst später durchschaut. Der Winter war so dunkel, kalt und trist wie in Nowosibirsk und wir vermissten den weißblauen bayerischen Himmel. Aber dann, als das Licht mit den ersten Sonnenstrahlen des Frühlings zurückkehrte, begannen wir langsam einige Dinge zu verstehen. Dass diese Stadt jeden erst einmal leiden lässt, dass es ihr egal ist, wer kommt und wer geht, dass ihre Vielfalt nicht zu fassen ist und dass die großen Veränderungen, die sie bis heute bewegen, damals gerade erst begonnen hatten.
Wir zogen in den Prenzlauer Berg, ganz nahe an die Bornholmer Brücke, die hinüber in den Wedding führt. 15 Jahre zuvor, am 9. November 1989, war das der Grenzübergang, der als erster öffnete. Hier begann der Berliner Mauerfall. Die Gegend auf der Ostseite hinter der Brücke heißt Arnimkiez – und sie machte uns skeptisch. Es gab hier nichts, keine Cafés, keine Restaurants, nicht mal Spätis, die Grundpfeiler der Berliner Versorgungskultur. Die Ecke gegenüber unserer Wohnung war ein einziger Bretterverschlag. „Die Schönhauser Allee ist gleich da hinten“, munterten uns die Vormieter auf. „Da gibt es alles.“Als ich einem älteren Kollegen, der in Charlottenburg lebte, erzählte, wo wir wohnen, fragte er ungläubig: „So weit draußen?“, schaute mich voller Mitleid an und fügte als mildernden Umstand hinzu: „Sie sind ja noch jung.“
16 Jahre später ist das alles nur noch schwer vorstellbar. Der gesamte Prenzlauer Berg wurde einmal, wie das so heißt, durchgentrifiziert. In manchen Vierteln, hat der Tagesspiegel festgestellt, fand in den vergangenen 20 Jahren ein Bevölkerungsaustausch von 80 Prozent statt. Das Haus, in dem wir leben, ist durchaus repräsentativ: Noch genau eine echte Berlinerin wohnt im zweiten Stock, wir sind stolz auf sie, weil sie dem Haus etwas Authentisches verleiht. Es ist ein obszöner Stolz, denn wir Zugereisten haben ihre Artgenossen vertrieben und diese Frau zur Exotin gemacht. „Schwaben“war lange das Wort, das dem Feindbild einen Namen gab, aber diese „Schwaben“sind mittlerweile Westdeutsche aus allen Bundesländern und auch Österreicher, Schweizer, Spanier, Italiener, Franzosen und Skandinavier.
Ganz verschwunden sind die Alteingesessenen natürlich nicht, und in 16 Jahren lernten wir einige von ihnen kennen – und mit ihnen ihre Geschichten. Auf einer Party erzählte uns ein Bekannter, dass er am 9. November 1989 bei den Ersten dabei war, die über die Bornholmer Brücke über die Grenze gingen. Er sei damals noch minderjährig gewesen und sie hätten ihm den Pass neben dem Foto abgestempelt. Er dachte sich nichts dabei. Erst zehn Jahre später fand er heraus, was es mit dem Stempel auf sich hatte: Es war eine Ausbürgerung, die die Grenzbeamten den ersten hundert Menschen, die nach Westen gingen, verpassten. Danach war der Ansturm so groß, dass sie das Stempeln bleiben ließen.
Ein andermal erzählte eine Freundin bei einem Abendessen von ihrer Kindheit in Ostberlin, im Stadtteil Schöneweide, wo sie 1988 wohnte. Sie war damals sieben Jahre alt und hörte die Gewehrsalven an der Massante-Brücke, am Teltowkanal, nur 200 Meter entfernt. „Das ist ein Feuerwerk“, logen ihre Eltern. Von den Fluchten und Fluchtversuchen im Bekanntenkreis habe sie auch erst später erfahren.
Und dann ist da der Kneipenwirt, der seit zwölf Jahren die Eckkneipe gegenüber betreibt. Eines Abends begann er zu erzählen, dass er in den 1980er Jahren schon hier gelebt hat, ganz nahe an der Grenze, und dass er in den Westen wollte und 1984 aufgeflogen ist. „So was hat sich rumgesprochen. Die von der Stasi waren ja auch nicht blöd.“Dann haben sie ihn eingesperrt. „Für zweieinhalb Jahre. Aber nach einem Jahr hat mich der Westen freigekauft.“Die Bundesregierung hat damals politische Häftlinge durch Devisen oder in Form von Warenlieferungen freigekauft und nach Westberlin geholt. Über derartige Handel wurde weder im Osten noch im Westen gesprochen. Der Kneipenwirt war dann ab 1985 im Westen und hat die Wende von dort aus miterlebt. Erst 2001 ging er zurück in seinen alten Kiez und hat 2005 an der bretterverschlagenen Ecke unter unserer Wohnung eine Kneipe eröffnet. Für uns war das ein erster Lichtblick.
Wo sonst bekommt man solche Geschichten serviert? Das hat auch der Kultur-Korrespondent der New York Times erkannt. Ich habe ihn vor ein paar Jahren kennengelernt und er erzählte mir, dass er für ganz Europa zuständig sei und für seine Zeitung auch von London, Paris, Madrid oder Rom aus hätte arbeiten können: „Aber es war völlig klar für mich, dass ich nach Berlin gehe, an die Schnittstelle zwischen Osten und Westen. Es gibt keine spannendere Stadt in Europa.“
Genau! Denn Berlin ist die Stadt des Westens und des Ostens, aber auch der Kreativen und Kaputten, der Reichen und Armen, der Blender und Gleichgültigen, der Rechten und Linken, der Sportler und Nerds. Und die Trennlinien sind oft gar nicht so leicht zu ziehen. „Was unterscheidet den Mitte-Hippster von einem Obdachlosen?“wurde ich neulich gefragt. Antwort: das iPhone. „Und wer hat das iPhone?“, fragte dann jemand. Tatsächlich kann man im Tiergarten jeden Tag beobachten, wie Bundestagsmitarbeiter in der Mittagspause an den Obdachlosen vorbeijoggen. In der S 2 sieht man morgens Anzugträger mit Bierflaschen in der Hand, in der
U 8 verkauft eine Beduinenfamilie Heroin in Mikrodosen und im Görlitzer Park zischen afrikanische Dealer im Minutentakt „Haschisch?“. Und während die einen morgens brav zur Arbeit fahren, stolpern andere aus den Clubs und fahren nach Hause. Bekannte Schauspieler und Schriftsteller, Politiker und Unternehmer stehen an der Supermarktkasse in der Schlange – und keiner macht viel Aufhebens darum. Von Zeit zu Zeit rauscht eine Polizeikolonne vorbei, weil irgendein Staatspräsident zu Gast ist, und ganze Straßenzüge werden gesperrt, weil eine neue Netflix-Serie gedreht wird.
Und man sollte in Berlin nie vorschnell urteilen: Ein Mann, der in unserem Kiez Pfandflaschen sammelt, erzählte mir eines Tages, dass er eine Ferienwohnung auf Teneriffa besitzt, und in einem Park im Wedding lernte ich Detlef kennen, ein Urweddinger, der dort die Blumen gießt und stolz berichtete, dass er vor vielen Jahren für viel Geld irgendeine Firma verkauft habe und seine Tage seither überwiegend damit verbringt, seine CD-Sammlung zu digitalisieren. Als ich ihn fragte, wo er herkomme, legte er übersteigerten Wert darauf, dass er kein „Ossi“sei …
Fortsetzung auf der nächsten Seite
In unserem Haus wohnt noch eine echte Berlinerin
Der Kneipenwirt wurde einst vom Westen freigekauft