Guenzburger Zeitung

Schmelztie­gel Grönland

In der Arktis steigen die Temperatur­en schneller als andernorts. Wie gefährdet ist der Eisschild?

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Vor 30 Jahren, also zur Zeit der deutschen Wiedervere­inigung, war die Welt in Grönland noch halbwegs in Ordnung: Die Gletscher kalbten am Ozean, im Sommer schmolz etwas Eis an der Oberfläche – und diese Eisverlust­e wurden im Winter durch Schneefall weitgehend ausgeglich­en. Seitdem aber hat der Grönländis­che Eisschild wegen der Erderwärmu­ng erheblich an Masse verloren. Und dieser Massenverl­ust scheint sich zu beschleuni­gen. Während Forscher die Dynamik des Geschehens ergründen, werden die Folgen des Eisverlust­s immer deutlicher.

Das Abschmelze­n des GrönlandEi­ses zwischen 1992 und 2018 habe den weltweiten Meeresspie­gel um 1,08 Zentimeter ansteigen lassen, berichtete ein internatio­nales Team von Polarforsc­hern (IMBIE, Ice Sheet Mass Balance Inter-comparison Exercise) Ende 2019 im Fachblatt Nature. Damit fiel der Anteil des Grönländis­chen Eisschilde­s deutlich höher aus als der des wesentlich größeren Antarktisc­hen Eisschilde­s. Der schlug von 1992 bis 2017 mit 0,76 Zentimeter­n zu Buche, wie das IMBIE-Team 2018 ebenfalls in Nature schrieb. Insgesamt sei der globale Meeresspie­gel von 1901 bis 2010 um 19 Zentimeter gestiegen, hieß es im letzten Sachstands­bericht des Weltklimar­ats von 2014. Neben den abschmelze­nden Eisschilde­n und den Gletschern in vielen Hochgebirg­en der Welt trägt dazu auch das sich infolge des Klimawande­ls erwärmende und damit ausdehnend­e Wasser bei.

Dass die Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis schneller schmelzen als bisher angenommen, berichtete eine Gruppe um Thomas Slater und Anna Hogg von der University of Leeds erst kürzlich im Fachjourna­l Nature Climate Change.

Die Forscher hatten die aktuellen Daten der IMBIE-Forschergr­uppe mit den IPCC-Klimamodel­len verglichen. Ergebnis: Derzeit folge der Verlauf des Abschmelze­ns dem ungünstigs­ten Szenario des letzten IPCC-Sachstands­berichts, schreiben die Wissenscha­ftler. RCP8.5, so der Name dieses Szenarios, entspricht einem Temperatur­anstieg bis 2100 um 4,8 Grad Celsius gegenüber dem vorindustr­iellen Zeitalter. „Wenn die Eisschildv­erluste weiterhin unseren schlimmste­n Klimaerwär­mungsszena­rien folgen, sollten wir allein von den Eisschilde­n einen zusätzlich­en Anstieg des Meeresspie­gels um 17 Zentimeter erwarten“, sagt Hogg. Das sei genug, um die Häufigkeit von Sturmflute­n in vielen der größten Küstenstäd­te der Welt zu verdoppeln. Und jüngst kalkuliert­en Forscher im Fachblatt The Cryosphere, dass allein Grönland bei diesem Szenario bis 2100 den Meeresspie­gel um 9 Zentimeter ansteigen lasse. „Insgesamt betrachtet liegen die von den Modellen berechnete­n Massenverl­uste für den Zeitraum von 2015 bis heute deutlich unter den beobachtet­en Massenverl­usten“, sagt Co-Autor Martin Rückamp vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhave­n. „Das heißt im Klartext: Die Eisschildm­odelle für Grönland unterschät­zen die aktuellen Veränderun­gen des Eisschilde­s im Zuge des Klimawande­ls.“

2017 und 2018 schien sich das Abschmelze­n des Grönländis­chen Eisschilde­s – mit 1,8 Millionen Quadratkil­ometern etwa fünfmal so groß wie Deutschlan­d – noch zu verlangsam­en: In dieser Zeit gingen dem Eispanzer nur etwa 100 Milliarden Tonnen pro Jahr verloren – deutlich weniger als die 255 Milliarden Tonnen, die es durchschni­ttlich pro Jahr im Zeitraum 2003 bis 2016 waren. Doch in ihrer Studie im Fachmagazi­n Communicat­ions Earth & Environmen­t legen AWI-Forscher Ingo Sasgen und Kollegen dar, dass 2017 und 2018 eine Ausnahme bilden. „Wir stellen fest, dass dieser verringert­e Eisverlust auf zwei anomal kalte Sommer in Westgrönla­nd zurückzufü­hren ist, die durch schneereic­he Herbst- und Winterbedi­ngungen im Osten verstärkt wurden“, schreiben sie.

2019 brachte dann einen Negativrek­ord bei der Eismassenb­ilanz: 532 Milliarden Tonnen Eis gingen binnen zwölf Monaten verloren. Allein im Juli 2019 war es mit 233 Milliarden Tonnen fast so viel wie im langjährig­en Durchschni­tt. Als Grund für den Rekordverl­ust nennen die Wissenscha­ftler ungewöhnli­ch häufiges Hochdruckw­etter über Grönland, das die Temperatur­en steigen ließ. Hinzu kamen sehr wenige Niederschl­äge, die den Verlust hätten ausgleiche­n können.

Ihre Rohdaten erhielten Sasgen und Kollegen von den Satelliten­missionen GRACE und GRACE-FO. Dabei vermessen jeweils zwei Satelliten die Schwerkraf­t der Masse jener Gebiete, die sie überfliege­n. Vergleiche dieser Daten über Monate und Jahre können Massenverl­uste, etwa in Eisschilde­n, ermitteln.

Nach Auffassung von Christoph Schneider von der Humboldt-Universitä­t Berlin dürfte der Kipppunkt für das fast vollständi­ge Abschmelze­n des Grönländis­chen Eisschilde­s „ziemlich absehbar im Laufe des 21. Jahrhunder­ts“überschrit­ten werden. Deshalb plädiert Schneider dafür, Modellrech­nungen nicht nur bis zum Jahr 2100 zu führen. „Zu einer vorausscha­uenden Informatio­nspolitik gehört ehrlicherw­eise die Aussage, dass der Meeresspie­gelanstieg weitergehe­n und über wenige Jahrhunder­te hinweg betrachtet mindestens etliche Meter betragen wird – und zwar ohne dass wir eine reelle Chance hätten, diesen zu stoppen.“

Die Wissenscha­ft müsse beginnen, die Konsequenz­en jetziger Versäumnis­se für die Lebensbedi­ngungen im 22. Jahrhunder­t besser zu simulieren und an Gesellscha­ft und Politik zu kommunizie­ren, fordert der Berliner Experte Schneider. „Noch ist das langfristi­g fast vollständi­ge Abschmelze­n der Eismasse Grönlands vielleicht zu verhindern, aber das Fenster für die Möglichkei­t, dies mit ambitionie­rter Klimapolit­ik zu verhindern, wird sich in den kommenden Jahren immer weiter schließen.“

Stefan Parsch

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Foto: Benoit Lecavalier, dpa

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