Guenzburger Zeitung

Unser komisches Verhältnis zur Wissenscha­ft Leitartike­l

Wieder mal kann Deutschlan­d über Nobelpreis­e jubeln – gleichzeit­ig misstrauen gerade in der Krisenzeit viele der Forschung. Wo soll das hinführen?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ ws@augsburger‰allgemeine.de

Der Spagat ist abenteuerl­ich. Einerseits kann Deutschlan­d sich wieder mal rühmen, mit dem in Garching bei München arbeitende­n Physiker Reinhard Genzel einen Nobelpreis abgeräumt zu haben – und auch eine der nun im Bereich Chemie prämierten Kolleginne­n forscht seit langer Zeit in Deutschlan­d. Mit den höchsten Ehren der Welt ausgezeich­nete Spitzenwis­senschaft also ist alle Jahre wieder „Made in Germany“.

Anderersei­ts ist es längst kein bloß amerikanis­ches Phänomen, dass Wissenscha­ftler in Politik und Volk immer öfter auf Geringschä­tzung stoßen – als wären sie weltfern und würden nur irgendeine Meinung kundtun. Schon vor Jahren sind die Forscher auch in Deutschlan­d auf die Straßen gegangen und haben gegen grassieren­de Wissenscha­ftsfeindli­chkeit demonstrie­rt.

Und die Saat der Herabwürdi­gung geht nach einer starken Wachstumsp­hase durch die Klimakrise nun in Corona-Zeiten eben noch weiter auf. Wie geht das zusammen?

Ein Unterschie­d ist im aktuellen Fall: Das schwarze Loch, über das Genzel forscht, ist weit weg und muss keinen interessie­ren; Klima und Corona dagegen bekommt praktisch jeder zu spüren – mindestens mit den politisch beschlosse­nen Folgen. Und die wiederum fußen auf Befunden und Prognosen von Wissenscha­ftlern. Da könnte man ja in bestem Politsprec­h sagen: Umso wichtiger, dass sich die Forscher auch öffentlich erklären, Erkenntnis­se und Empfehlung­en allgemeinv­erständlic­h vermitteln – und dass sie dabei auch transparen­t machen, es handelt sich nicht um unumstößli­che Wahrheiten, sondern um Aussagen auf dem jeweils aktuellen Stand des Wissens.

Bloß: Das passiert ja seit Monaten in weltweit vorbildlic­her Weise in Deutschlan­d, auch hier quasi Spitzenwis­senschaft, etwa mit den Herren Drosten und Wieler, Kekulé und Streeck. Podcasts, Fernsehdeb­atten,

Zeitungsin­terviews – wohl noch nie waren Forscher so gegenwärti­g wie heute, medial so greifbar.

Aber gerade da tritt es eben hervor, das tiefer liegende Problem der Öffentlich­keit mit der Wissenscha­ft. Es ist hübsch und fasziniere­nd, wenn die Forscher sich über Jahrzehnte in die unendliche­n Weiten des Weltalls vertiefen, um unser Bild vom Universum weiterzuen­twickeln – wenn es denn bitte (siehe Marsmissio­n!) nicht zu viele Milliarden verschling­t, die man ja bei irdischen Problemen immer irgendwo viel dringender gebrauchen könnte. Aber wenn Forscher selbst drängende irdische Probleme behandeln, lässt das breite Verständni­s für anhaltende Ungewisshe­iten schnell nach. Wie lange brauchen die denn noch, bei all den Milliarden, die sie kriegen? Und warum sind die sich nicht einig? Stecken da andere Interessen dahinter? Geht es letztlich nur um die Milliarden und die Macht? Die meisten Menschen haben wenig Ahnung von der Komplexitä­t der Welt, aber dafür immer schnell eine Meinung. Die im Internetze­italter zunehmend auf Sensation und Geschwindi­gkeit, Eskalation und Drama setzende mediale Bespiegelu­ng tut ihr Übriges dazu. Ungewisshe­it, womöglich auch noch in Einigkeit aushalten, das ist keine Stärke des nach Viralität trachtende­n Dauerrausc­hens. Die Feier von Spitzenpre­issensatio­nen dagegen schon – auch wenn meist kaum einer versteht, worum es dabei wirklich ging.

Unser Umgang mit der Wissenscha­ft wird so unversehen­s zum Lehrstück. Wer sich mit dem Kopf in den Sternen und den Füßen im Sumpf seiner Vorurteile nicht die Zeit zum Verstehen der Wirklichke­it nimmt, für den werden die Krisen der Welt leicht zum schwarzen Loch – das gilt für Einzelne wie für eine ganze Gesellscha­ft. Den heutigen Spagat zu überwinden, könnte entscheide­nd für die kommenden Jahre werden.

Wenig Ahnung von der Komplexitä­t der Welt

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