Unser komisches Verhältnis zur Wissenschaft Leitartikel
Wieder mal kann Deutschland über Nobelpreise jubeln – gleichzeitig misstrauen gerade in der Krisenzeit viele der Forschung. Wo soll das hinführen?
Der Spagat ist abenteuerlich. Einerseits kann Deutschland sich wieder mal rühmen, mit dem in Garching bei München arbeitenden Physiker Reinhard Genzel einen Nobelpreis abgeräumt zu haben – und auch eine der nun im Bereich Chemie prämierten Kolleginnen forscht seit langer Zeit in Deutschland. Mit den höchsten Ehren der Welt ausgezeichnete Spitzenwissenschaft also ist alle Jahre wieder „Made in Germany“.
Andererseits ist es längst kein bloß amerikanisches Phänomen, dass Wissenschaftler in Politik und Volk immer öfter auf Geringschätzung stoßen – als wären sie weltfern und würden nur irgendeine Meinung kundtun. Schon vor Jahren sind die Forscher auch in Deutschland auf die Straßen gegangen und haben gegen grassierende Wissenschaftsfeindlichkeit demonstriert.
Und die Saat der Herabwürdigung geht nach einer starken Wachstumsphase durch die Klimakrise nun in Corona-Zeiten eben noch weiter auf. Wie geht das zusammen?
Ein Unterschied ist im aktuellen Fall: Das schwarze Loch, über das Genzel forscht, ist weit weg und muss keinen interessieren; Klima und Corona dagegen bekommt praktisch jeder zu spüren – mindestens mit den politisch beschlossenen Folgen. Und die wiederum fußen auf Befunden und Prognosen von Wissenschaftlern. Da könnte man ja in bestem Politsprech sagen: Umso wichtiger, dass sich die Forscher auch öffentlich erklären, Erkenntnisse und Empfehlungen allgemeinverständlich vermitteln – und dass sie dabei auch transparent machen, es handelt sich nicht um unumstößliche Wahrheiten, sondern um Aussagen auf dem jeweils aktuellen Stand des Wissens.
Bloß: Das passiert ja seit Monaten in weltweit vorbildlicher Weise in Deutschland, auch hier quasi Spitzenwissenschaft, etwa mit den Herren Drosten und Wieler, Kekulé und Streeck. Podcasts, Fernsehdebatten,
Zeitungsinterviews – wohl noch nie waren Forscher so gegenwärtig wie heute, medial so greifbar.
Aber gerade da tritt es eben hervor, das tiefer liegende Problem der Öffentlichkeit mit der Wissenschaft. Es ist hübsch und faszinierend, wenn die Forscher sich über Jahrzehnte in die unendlichen Weiten des Weltalls vertiefen, um unser Bild vom Universum weiterzuentwickeln – wenn es denn bitte (siehe Marsmission!) nicht zu viele Milliarden verschlingt, die man ja bei irdischen Problemen immer irgendwo viel dringender gebrauchen könnte. Aber wenn Forscher selbst drängende irdische Probleme behandeln, lässt das breite Verständnis für anhaltende Ungewissheiten schnell nach. Wie lange brauchen die denn noch, bei all den Milliarden, die sie kriegen? Und warum sind die sich nicht einig? Stecken da andere Interessen dahinter? Geht es letztlich nur um die Milliarden und die Macht? Die meisten Menschen haben wenig Ahnung von der Komplexität der Welt, aber dafür immer schnell eine Meinung. Die im Internetzeitalter zunehmend auf Sensation und Geschwindigkeit, Eskalation und Drama setzende mediale Bespiegelung tut ihr Übriges dazu. Ungewissheit, womöglich auch noch in Einigkeit aushalten, das ist keine Stärke des nach Viralität trachtenden Dauerrauschens. Die Feier von Spitzenpreissensationen dagegen schon – auch wenn meist kaum einer versteht, worum es dabei wirklich ging.
Unser Umgang mit der Wissenschaft wird so unversehens zum Lehrstück. Wer sich mit dem Kopf in den Sternen und den Füßen im Sumpf seiner Vorurteile nicht die Zeit zum Verstehen der Wirklichkeit nimmt, für den werden die Krisen der Welt leicht zum schwarzen Loch – das gilt für Einzelne wie für eine ganze Gesellschaft. Den heutigen Spagat zu überwinden, könnte entscheidend für die kommenden Jahre werden.
Wenig Ahnung von der Komplexität der Welt