Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (71)
In einem Gespräch mit der Journalistin Anna Aziz sagten Sie, Sie seien auf der Seite der Armen. Sind Sie Sozialist?“
„Nein, aber ich stehe wie unser Herr Jesus immer auf der Seite der Benachteiligten.“
„Sie haben bereits als Student mit dem Theater zu tun gehabt und heute, vierzig Jahre danach, sind Sie immer noch als Autor tätig. Sie haben eine große fünfbändige Geschichte des Theaters aus dem Französischen übersetzt. Was fasziniert Sie am Theater?“
„Es ist ein effektives Mittel, gesellschaftliche Probleme in eine lebendige Form zu bringen, die Kopf und Herz der Menschen bewegt. Literatur wirkt langsam, Theater wirkt direkt.“Zum ersten Mal spürte Mancini etwas wie Leidenschaft in der Stimme des Pfarrers.
„Ich habe leider keines Ihrer Stücke gesehen, aber die Rezensionen im Internet gelesen. In Ihrem ersten großen Theaterstück mit dem Titel ,Feigheit der Flucht‘ geht es um die
Flucht der Intellektuellen und Akademiker ins Exil. Ist dies nicht ein allgemeines Problem in allen Ländern der Dritten Welt? Spielen neben der Armut und dem Geltungswillen oder der Eitelkeit und Gier der Akademiker, die Sie ja in Ihrem Stück anklagen, nicht auch Repressionen eine Rolle, weshalb sich die Klugen aus dem Staub machen, um ihre Haut zu retten?“
„Wir haben seit vierzig Jahren keine Repressionen. Wie Sie sehen, sprechen wir beide frei und ungehindert miteinander, als säßen wir in Rom. Aber der Westen verführt unsere fähigsten Köpfe und lässt uns ausbluten“, die Stimme des Pfarrers hatte einen bitteren Ton angenommen. Mancini merkte, dass ihm die Rolle des Journalisten nicht besonders gut gelang. Statt sein Gegenüber zu entspannen und Vertrauen zu gewinnen, um dann zu den wichtigen Fragen vorzustoßen, machte er den Pfarrer nervös. Er beschloss also, eine andere Taktik anzuwenden.
„Sie haben mit dem ,Freudenchor‘ Ihren größten öffentlichen Auftritt gehabt. Sie haben Kinder und Jugendliche zum Singen gebracht. Für dieses Projekt haben Sie viel Sympathie geerntet. Was steckt hinter der Idee?“
„Ich wollte nicht nur über Verbrüderung reden, sondern sie mit Freude realisieren, und das war und ist durch Gesang möglich. Bis dahin war der religiöse Gesang in den Kirchenmauern gefangen. Ich habe ihn nach draußen geholt und Kinder, Jugendliche und Erwachsene daran beteiligt, unabhängig von Religion, Geschlecht oder Alter. Wir fingen ganz klein an, und heute haben wir vier Chöre. Gesang geht zu Herzen, Musik verbindet ohne Worte.“
„Und wie reagierte die Kirchenführung?“
„Zunächst ablehnend und um den Ruf des kirchlichen Gesangs besorgt, aber am Ende hat die Vernunft gesiegt.“
„Merkwürdig, sobald Sie eine Herausforderung erfolgreich gemeistert haben, geben Sie das Projekt ab und widmen sich dem nächsten hoffnungslosen Fall. Was treibt Sie an?“
„Die heilige Maria. Sie gibt mir Kraft. Manchmal bin ich sterbensmüde vor Erschöpfung, sehe mich vor einem Berg ungelöster Probleme und unerledigter Aufgaben.
Aber mit Marias Hilfe fühle ich mich plötzlich wieder wie ein Jugendlicher von achtzehn Jahren.“Aus der Stimme des Pfarrers klangen Stolz und Zufriedenheit.
„Mir stellt sich die Frage, wann Sie überhaupt schlafen. Neben all diesen Aktivitäten sind Sie ja auch Mitglied in vielen Organisationen. Und außerdem sind Sie seit 1982 Pate der Wunderheilerin Dumia. Sie haben sogar ein dreibändiges Werk über sie verfasst und Weltreisen mit ihr unternommen, von Norwegen über Kanada bis Südafrika. Seit fast dreißig Jahren engagieren Sie sich für dieses Projekt, ohne offizielle Anerkennung. Hat sich das gelohnt?“
Gabriel zögerte lange. Das war nicht nur Mancinis Gefühl. Später, als er das Interview abschrieb, maß er die Zeit an dieser Stelle und stellte fest, dass die Stille nach dieser Frage mehrere Minuten gedauert hatte.
„Ich weiß es nicht. Das kann am Ende meiner Tage nur Gott allein beurteilen. Aber Sie irren sich“, sagte Gabriel, und in seinem Blick lag eine Spur von verletztem Stolz. „Wir werden von Tausenden Menschen weltweit anerkannt, nur die Offiziellen haben uns die Anerkennung verweigert.“
„Ja, ich habe gelesen, wie sehr Sie sich um die Anerkennung der Wunderfrau bemüht haben: Die Führung
der orthodoxen wie auch der katholischen Kirche in Syrien haben Anerkennung jedoch verweigert. Die Patriarchen der beiden größten christlichen Gemeinschaften haben sich vor Gästen sogar über die Wunderheilerin lustig gemacht. Sie, lieber Pfarrer Gabriel, haben sich tapfer bemüht, nicht nur mit weltweiten Auftritten. Sie haben Mediziner und geheilte Kranke als Zeugen gerufen und ließen das Olivenöl analysieren, das, wie Sie in Ihrem Buch beschreiben, wie aus einem Ölhahn floss. Die Wunderheilerin bekam Stigmata wie Jesus. Und sie sprach mit Maria und Jesus. Trotzdem hat der Vatikan die Frau auch nach dreißig Jahren nicht anerkannt. Es muss Sie schockiert haben, als Sie von Kardinal Buri erfuhren, dass Kardinal Cornaro nicht zu Dumia, sondern zu dem Bergheiligen im Norden fährt. Wie haben Sie die Nachricht aus Rom aufgenommen? Waren Sie überrascht?“
„Ich habe sie mit Bedauern aufgenommen, aber ich war im Gegensatz zu unserem Freund Kardinal Buri nicht überrascht. Wissen Sie, wenn es einmal im Jahrhundert einen orientalischen Heiligen gibt, so wird Rom kalt und kritisch. Der Himmel ist voller ungeprüfter Europäer. Haben Sie je die Lebensläufe europäischer Heiliger gelesen?“
Mancini schüttelte den Kopf.
„Sie haben nicht viel versäumt. Manch einer gehört wirklich nicht in den Himmel, sondern als Schwerverbrecher ins Gefängnis, manch anderer ist eine Mogelpackung, die eher mit den Machtkämpfen im Vatikan zu tun hat, und wieder andere gehören in die Psychiatrie. Manchmal reichte es, dass ein Herrscher seine Blähungen loswurde, und schon hat der Vatikan den Heiler zum Heiligen erklärt. Aber zweihundertsiebzehn nachweislich geheilte Kranke reichten nicht für einen Empfang in Rom.“
„Sie sind sehr mutig, und trotzdem immer noch katholisch?“, sagte Mancini voller Bewunderung.
„Ich bin mutig, weil ich katholisch bin und weil ich von Anfang an wusste, dass ich kämpfen muss. Wir, die orientalischen Christen, sind für den Vatikan schlimmer als die Muslime. Man bedauert dort, dass wir die Kreuzzüge überlebt haben. Die Kreuzzüge haben Konstantinopel und Jerusalem und deren Führungsanspruch zerstört. Bis dahin war Rom eine von vielen heiligen Städten, aber Jerusalem war das Herz der Christenheit. Heute ist es eine besetzte Touristenstadt.“
„Mich beschäftigt noch etwas anderes. Wie erklären Sie die Erscheinung der heiligen Maria vor den Augen einer einzigen Person, nämlich Dumia? »72. Fortsetzung folgt