Der beste deutschsprachige Roman des Jahres?
Vielleicht die Favoritin auf den Deutschen Buchpreis: Christine Wunnickes „Die Dame mit der bemalten Hand“ist so souverän wie klug. Das kann sonst nur ein großer, reich prämierter Kollege
Allzu oft geht es darum, „das Buch der Stunde“zu küren, weil es wie gerufen scheint und meist politisch engagiert zum aktuellen Geschehen passt – weil es damit „gesellschaftlich relevant“ist. Wie es die Literatur ja auch als Ganzes sein soll …
Wenn die Wahl zum Deutschen Buchpreis 2020 an diesem Montagabend nach diesem Kriterium getroffen wird, dürfte Christine Wunnicke keine Chance haben. Dass nicht wenige Kritiker meinen, sie sei aber „dran“, vielleicht sogar so etwas wie eine Favoritin, nachdem sie es mit zwei ihrer vorherigen Romane in die Longlist geschafft hat, liegt am exakten Gegenteil: „Die Dame mit der bemalten Hand“ist ein im besten Sinne über die Gegenwart erhabenes Buch. Und sollten wir genau solche nicht viel öfter suchen? Es beweist jedenfalls die Richtigkeit dessen, was Sigrid Löffler mal über die in München lebende Autorin gesagt hat: „Wunnicke ist eine große, unterschätzte Romanautorin.“
Und dabei ist es doch ein so kleines Büchlein, gerade mal 160 Seiten dünn. Aber die sind von einer so kunstvollen und klugen Souveränität, zu der in deutscher Sprache und mit historischem Stoff ansonsten nur ein veritabler Star, der jedenfalls bereits reich prämierte Christoph Ransmayr, imstande ist – mit Klassikern wie „Letzte Welt“und zuletzt „Cox und Der Lauf der Zeit“. Lehrreiche Reisen durch Raum und Zeit.
Mit Christine Wunnicke führt diese gut 250 Jahre zurück – zu einem hinreißenden Aufeinandertreffen.
Da ist der ambitionierte, aber auch ein bisschen schräge Mathematiker Carsten Niebuhr, der tatsächlich einst „aus dem Bremischen“als Kartograf zum Forschungsreisenden wurde mit dem abenteuerlichen Ziel Arabien – und nach dem Wüten der Malaria unter der Expeditionscrew als einzig Überlebender, selbst bereits fiebernd, auf einer Insel nahe dem indischen Mumbai strandet.
Dort trifft er, wie der Zufall will, auf Meister Musa, einen Perser, der tatsächlich Meister ist, im Bauen von astronomischen Rechen- und Messinstrumenten nämlich, sogenannter Astrolabien, im Dienste des Fürsten von Jaipur – ebenfalls ein Sonderling, wenn auch von anderem Kaliber: in Reichtum und Könnerschaft zugleich eitel und läppisch geworden, so streng wie liebevoll zu seinem mitreisenden jugendlichen Diener, gelangweilt von den mit dem Alter hohl werdenden Wiederholungen des Lebens und deshalb umso neugieriger beim Aufeinandertreffen mit dem befremdlichen Deutschen. Daran allein kann man viel Freude haben, weil die 54-jährige Christine Wunnicke in der perspektivisch wechselnden Schilderung dieser Charaktere und ihrer sprachlichen Verständigung virtuos ist – Niebuhrs arabisches Radebrechen versteht sie charmant ins Deutsche zu übertragen.
Von geradezu philosophischer Bedeutung wird diese Begegnung bei ihr durch den Kontrast des Begreifens der Welt. Beide sind Männer der Wissenschaft, sie haben also vermeintlich eine gemeinsame Basis. Aber um nur das titelgebende Beispiel zu zitieren: Niebuhr zeigt die Sterne, die nach westlichem Verständnis das Bild der Kassiopeia formen. Meister Mussa seufzt: „So klein. Ihr seht das Weibsbild in den paar Sternen. Wir sehen dort nur die bemalte Hand.“Und dann zeigt Mussa ihren kompletten Körper am Himmel: Ellenbogen, Kopf… „Die Dame mit der bemalten Hand umspannt den halben Himmel.“Und nun sagt Niebuhr: „Wir glotzen in denselben Himmel und sehen verschiedene Bilder.“
So treffen hier kulturell bedingte Sichtweisen immer wieder aufeinander – nicht selten mit dem Ergebnis, dass der harte Begriff der Wissenschaft in Abgrenzung zum Mythos (Niebuhr hasst alle Religion) beim Perser auf Erstaunen stößt. Was die Wahrheit über die Welt und den Menschen ausmacht, ist bei Meister Mussa von einem viel breiteren Verständnis getragen. Was wiederum den Deutschen oft sagen lässt: „Ich kann dir nicht folgen“, was sich aber doch nach und nach in einem sich staunend weitenden Horizont zeigt. Als Niebuhr zum Schluss jedenfalls zurück in der Heimat ist – dem schwächsten Teil des Buches, das man sonst ohne Weiteres gleich noch mal von vorn beginnen will – ist er ein anderer geworden …
Aber vielleicht hat uns ja Wunnicke was Wichtiges zum aktuellen politischen Geschehen samt aufkeimender Nationalismen zu erzählen. Also doch auch ein Buch der Stunde? Jedenfalls wäre es des Buchpreises sehr würdig.
» Christine Wunnicke:
Die Dame mit der bemalten Hand Berenberg, 168 Seiten, 22 Euro