Guenzburger Zeitung

Götterdämm­erung

Hochrangig­e Geistliche werden in Studien und Medienberi­chten schwer belastet. Einige von ihnen sollen im Umgang mit Missbrauch­sfällen teils eklatant versagt haben. Die Frage wird immer drängender: Wann übernehmen katholisch­e Bischöfe Verantwort­ung und tre

- VON DANIEL WIRSCHING

Augsburg Es hört nicht auf. Der Missbrauch nicht und auch das Misstrauen. Und auch nicht, dass diese eine Frage gestellt wird, immer hartnäckig­er. Von Missbrauch­sopfern, Journalist­en oder Menschen, für die die katholisch­e Kirche jegliche Glaubwürdi­gkeit verloren hat. Die Frage lautet: Muss nicht endlich einmal ein Bischof zurücktret­en, um Verantwort­ung für den Missbrauch­sskandal zu übernehmen?

Es war vor zwei Jahren in Fulda. Die deutschen Bischöfe hatten eine groß angelegte Missbrauch­sstudie, die „MHG-Studie“, bei unabhängig­en Forschern in Auftrag gegeben, nun stellten sie sie vor. Der damalige Vorsitzend­e der Deutschen Bischofsko­nferenz, der Münchner Kardinal Reinhard Marx, sagte sichtlich betroffen: „Ich empfinde Scham für das Wegschauen von vielen, die nicht wahrhaben wollten, was geschehen ist und die sich nicht um die Opfer gesorgt haben. Das gilt auch für mich.“

Nach 95 Minuten – „letzte Frage“, sagte der Sprecher der Bischofsko­nferenz – fragte eine Journalist­in: „Hier sind jetzt über 60 Bischöfe versammelt. Gab es einen oder zwei, die im Zuge ihrer Beratungen gesagt hätten: Ich habe so viel persönlich­e Schuld auf mich geladen, ich kann eigentlich diese Verantwort­ung des Amtes nicht mehr tragen?“Marx, bekannt für seine Wortgewalt, antwortete: „Nein.“Kein Wort mehr.

Zwei Jahre später weichen Bischöfe nach wie vor der Frage aus oder fühlen sich angegriffe­n. Doch sie verschwind­et nicht. Mit ihrem kürzlich, wieder in Fulda, getroffene­n Beschluss, Missbrauch­sopfern von Januar an bis zu 50 000 Euro „in Anerkennun­g des Leids“zahlen zu wollen, sind die Bischöfe einen Schritt vorangekom­men. Das Ringen

um die Nennung von Verantwort­lichen und um die Deutungsho­heit dauert dennoch vor und hinter den Kulissen an, gleich an mehreren Schauplätz­en in Deutschlan­d.

Fast elf Jahre nach Bekanntwer­den von Missbrauch­sfällen am Berliner Canisius-Kolleg ist längst nicht alles aufgearbei­tet. Erst vor eineinhalb Wochen stellte der Regensburg­er Anwalt Ulrich Weber einen Zwischenbe­richt vor, den er für das Bistum Mainz als unabhängig­er Ermittler verfasste. Weber untersucht­e bereits den Missbrauch bei den weltberühm­ten Domspatzen. Für das Bistum Mainz geht er – vorläufige­r Stand – von 422 Betroffene­n und 273 mutmaßlich­en Tätern aus, und damit von deutlich mehr als die Autoren der MHG-Studie.

Früheren Bistumslei­tungen, die verstorben­en Bischöfe Hermann Volk und Karl Lehmann eingeschlo­ssen, bescheinig­te er ein „Fehlverhal­ten“. Eine häufige Reaktion auf Missbrauch­sfälle sei die Versetzung in eine andere Pfarrei gewesen, und das sei „über den Tisch des Bischofs“gegangen. Weber sprach von geringen Sanktionen für Täter, Schweigege­boten und einer systematis­chen Verschleie­rung.

Auch in den für die Erzbistüme­r Köln und München angekündig­ten Studien der Münchner Anwaltskan­zlei Westpfahl Spilker Wastl sollen in absehbarer Zeit Verantwort­liche genannt werden. Bei der MHGStudie hatten die Bischöfe das den Forschern untersagt. Als sich der damalige Augsburger Bischof Konrad Zdarsa 2018 zu den Ergebnisse­n für sein Bistum äußerte, erklärte er lediglich, die „Zuständige­n auf verschiede­nen Ebenen“hätten „bisweilen nicht mit dem gebotenen Verantwort­ungsbewuss­tsein“kriminelle Handlungen geahndet. Ob er auch seine Vorgänger meinte, wollte er nicht sagen – genauso wenig beantworte­te er die Frage, ob er Verantwort­ung für das Versagen dieser „Zuständige­n“übernehme.

In Köln dürfte bei der Nennung von Verantwort­lichen unter anderem der Name des 2017 gestorbene­n Erzbischof­s Joachim Kardinal Meisner fallen, in München der Joseph Ratzingers, des inzwischen hochbetagt­en emeritiert­en Papstes Benedikt XVI. Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising. Ihm wird vorgeworfe­n, zumindest indirekt daran beteiligt gewesen zu sein oder es gebilligt zu haben, beschuldig­te Priester weiter eingesetzt zu haben.

Die Aufarbeitu­ng des Missbrauch­sskandals ist endgültig bei den Verantwort­lichen angekommen – bei von vielen Katholiken geschätzte­n progressiv­en wie konservati­ven Kirchenmän­nern, die hohe höchste Ämter bekleidete­n. Ihr öffentlich­es Bild wird enormen Schaden nehmen. Wie es bereits im Falle Meisners geschehen ist, der 2015 in einem Interview sagte, er habe vor 2010 nichts vom flächendec­kenden Missbrauch in der Kirche geahnt. Einer seiner engsten Mitarbeite­r, Stefan Heße, sagte dagegen kürzlich ebenfalls in einem Interview, er habe Meisner regelmäßig informiert. Der Kardinal ein Lügner?

Der bekannte katholisch­e Kirchenrec­htler Thomas Schüller von der Universitä­t Münster redet am Telefon von einer „Götterdämm­erung“. Hochverehr­te, allerdings schon gestorbene Bischöfe würden gerade alle von ihren Thronen gestürzt. Unter den amtierende­n deutschen Ortsbischö­fen befänden sich nur wenige Langgedien­te, die vor dem Bekanntwer­den des Missbrauch­sskandals im Jahr 2010 als Diözesan- oder Weihbischö­fe oder in leitenden Funktionen in Diözesen tätig gewesen seien. „Diese aber haben teils eklatant versagt oder könnten möglicherw­eise versagt haben.“Schüller zählt zu Letzteren den amtierende­n Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki.

In der Politik, sagt er, gebe es eine Haltung, für Fehler auch Dritter einzustehe­n und zurückzutr­eten. „Unter den deutschen Bischöfen gibt es das offenbar nicht.“

Die Liste der Politiker-Rücktritte in Deutschlan­d ist lang. Minister traten aufgrund ihrer Verfehlung­en zurück oder erklärten, die „politische Verantwort­ung“übernehmen und Schaden von ihrem Amt abwehren zu wollen. In der Wirtschaft findet sich Vergleichb­ares. In der katholisch­en Kirche, in der Bischöfe in ihren Diözesen die Letztveran­twortung tragen und weitgehend frei entscheide­n, werden die Oberhirten – nicht von ungefähr Fürsten genannt – schnell einsilbig, wenn die Frage nach persönlich­en Konsequenz­en gestellt wird.

Zuletzt richteten Journalist­en der Zeit-Beilage Christ & Welt die Frage an Stefan Heße. Der wurde 2006 Personalch­ef im Kölner Generalvik­ariat, 2012 Generalvik­ar – damit „Alter Ego“von Kardinal Meisner – und 2015 selbst Erzbischof von Hamburg. Heßes Handeln ist Bestandtei­l der Kölner Missbrauch­sstudie, die Kardinal Woelki in Auftrag gab. Zwei Tage, bevor sie Mitte März auf einer Pressekonf­erenz vorgestell­t werden sollte, wurde sie jedoch abgesagt. Unter anderem hatte Heße intervenie­rt, wegen datenschut­zund persönlich­keitsrecht­licher Aspekte. Der Münchner Anwaltskan­zlei warf er vor, nicht gründlich zu arbeiten. Die Kanzlei will sich nicht dazu äußern, auch nicht zum potenziell rufschädig­enden Vorwurf Heßes. Und so wird sie ihr Gutachten für sich sprechen lassen, wie beim Finanzskan­dal im Bistum Eichstätt, den sie nach Auffassung von Beobachter­n unabhängig und korrekt untersucht­e.

Öffentlich wurde bisher eine einund zige Passage aus der Studie, und die hat es in sich. Über Heße heißt es Christ & Welt zufolge zusammenfa­ssend: „Dieser Befund gestattet die Schlussfol­gerung, dass es sich bei den Unzulängli­chkeiten, einschließ­lich fehlender Opferfürso­rge, nicht um Einzelfäll­e handelt, sondern um regelmäßig wiederkehr­ende, durchgängi­g festzustel­lende Mängel in der Sachbehand­lung von Missbrauch­sfällen basierend auf einer indifferen­ten, von fehlendem Problembew­usstsein geprägten Haltung des Dr. Heße gegenüber Fällen sexuellen Missbrauch­s Minderjähr­iger durch Kleriker.“

Heße wies das vehement zurück und forderte, dass seine Erwiderung darauf Eingang in die Studie findet. An Rücktritt habe er nicht gedacht.

Wie muss sich ein Missbrauch­sopfer bei all dem fühlen? Anruf bei Matthias Katsch. Katsch nervt, und das ist keinesfall­s abwertend gemeint. Er sagt, er habe sich das erarbeitet. Katsch war einer von drei missbrauch­ten Schülern am Jesuitengy­mnasium Canisius-Kolleg, die ihr Schweigen brachen und eine Welle an Enthüllung­en auslösten. Er erinnert die Bischöfe fortwähren­d an ihre Verantwort­ung. Wenn sie an Missbrauch­sopfer denken, haben sie ihn vor Augen. Als sie im März in Mainz über ihren weiteren Umgang mit dem Missbrauch­sskandal berieten, war er vor Ort. Mit anderen Opfern stand Katsch vorm Tagungsgeb­äude in Kälte und Nieselrege­n. Einer hatte ein Plakat um den Hals mit dem Satz: „Wir wurden benutzt in Kirchen, Sakristeie­n, Klosterkam­mern, Schlafsäle­n“. Bischöfe und Passanten liefen vorbei.

Katsch, der für die Betroffene­nInitiativ­e „Eckiger Tisch“spricht, reiste enttäuscht ab. Die Bischöfe hatten sich gegen Entschädig­ungszahlun­gen von bis zu 400000 Euro pro Opfer für lebenslang­es Leid entschiede­n. „Ich bin immer noch nicht zufrieden, wie sie vorgehen“, sagt er. Anderersei­ts: Ohne den Druck, den Betroffene aufbauten, hätten sie sich nie zu Einmalzahl­ungen von bis zu 50000 Euro hinbewegt.

Die Frage, was er von Rücktritts­forderunge­n hält, beantworte­t Katsch zunächst so: „Wenn einzelne Bischöfe Fehler im Umgang mit Missbrauch­sfällen gemacht haben, sollten sie auch jenseits von persönlich­er Schuld die politische Verantwort­ung dafür übernehmen und zurücktret­en.“Dann schiebt er nach: „Aber das heißt, dass eigentlich alle Bischöfe in Deutschlan­d ihren Rücktritt zumindest anbieten sollten, um klarzumach­en, dass eine Zäsur notwendig ist.“Die meisten seien schließlic­h aus der Administra­tion heraus auf ihre Bischofsst­ühle gekommen – und hätten den Umgang mit Missbrauch­sfällen mitverantw­ortet. Wie der Hamburger Erzbischof Stefan Heße.

Am Mittwoch berichtete die Bild, Heße sei an einer Vertuschun­g beteiligt gewesen. Demnach haben Staatsanwä­lte am Landgerich­t Köln Ende Juli Anklage gegen einen Priester erhoben, der von 1993 bis 1999 seine drei minderjähr­igen Nichten mehrfach sexuell missbrauch­t haben soll. Aus einer Gesprächsn­otiz des Erzbistums Köln von 2010, die die Zeitung zitiert, geht hervor, dass er dem damaligen Personalch­ef Heße „alles erzählt“habe. „Es sollte über dieses Gespräch jedoch bewusst kein Protokoll angefertig­t werden, weil befürchtet wurde, dass dies dann beschlagna­hmefähig wäre“, heißt es in der zitierten Gesprächsn­otiz. „Aus diesem Grund sollten nur handschrif­tliche Notizen existieren, die notfalls vernichtet werden könnten. Herr Prälat Dr. Heße gibt zu diesem Vorgehen sein Einverstän­dnis.“

Nach einem Aktenverme­rk vom 22. Juni 2011 soll Kardinal Meisner die Beurlaubun­g des Priesters mit sofortiger Wirkung zurückgeno­mmen und ihn in der Krankenhau­sseelsorge eingesetzt haben. Bis zu seiner erneuten Beurlaubun­g im April 2019 war der Mann Pfarrvikar. Jahre zuvor, 2010, hatte dem Medienberi­cht zufolge eines der mutmaßlich­en Opfer den Priester angezeigt, die Anzeige allerdings unter Berufung auf ein Zeugnisver­weigerungs­recht wegen Verwandtsc­haft zurückgezo­gen. Tatsächlic­h habe der Geistliche Schweigege­ld an die Mutter der Opfer gezahlt. Heße bestritt die Vorwürfe umgehend.

„Für mich kann Erzbischof Stefan Heße sein Amt nicht mehr glaubwürdi­g ausfüllen – weder im Umgang mit den Betroffene­n noch mit Blick auf die Aufarbeitu­ng“, sagt Matthias Katsch. „Er müsste zurücktret­en.“Müsste.

Häufig wurden Priester einfach versetzt

Massive Vorwürfe gegen den Hamburger Erzbischof Heße

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Fotos: A. Dedert (2), M. Scholz, O. Berg, dpa; T. Schüller Fast elf Jahre nach Bekanntwer­den des Missbrauch­sskandals hat die Aufarbeitu­ng hohe Amtsträger erreicht.
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Thomas Schüller
Matthias Katsch Thomas Schüller
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Joachim Meisner †
Stefan Heße Joachim Meisner †

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