Guenzburger Zeitung

Wie gerecht sind die Corona‰-Maßnahmen?

Deutschlan­d fährt herunter. Das Ziel ist klar: Der Staat will die Verbreitun­g des Virus wieder unter Kontrolle bekommen. Doch es bleiben auch Fragen zu den harten Einschränk­ungen, die in Augsburg sogar schon ab heute gelten

- VON MICHAEL STIFTER, ULI BACHMEIER UND STEFAN STAHL

München/Augsburg Die Beschlüsse über den vierwöchig­en „Lockdown light“sind gefasst – jetzt beginnt die Überzeugun­gsarbeit. Fast zeitgleich mit der Kanzlerin, die sich im Bundestag heftiger Kritik erwehren musste, haben am Donnerstag auch Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder und sein Vize Hubert Aiwanger in München erklärt, warum die Corona-Pandemie aus ihrer Sicht nur so und nicht anders eingedämmt werden kann. Ihre Botschaft: Wenn der Staat Kontakte von Mensch zu Mensch beschränke­n, gleichzeit­ig aber Kitas, Schulen und den Handel offen halten will, dann blieben keine Alternativ­en, als gastronomi­sche Betriebe, Kultur- und Sportstätt­en zu schließen, Veranstalt­ungen aller Art abzusagen und private Zusammenkü­nfte auf ein Minimum zu beschränke­n. Diese vier Wochen, sagt Söder, seien eine „bittere Pille“. Aber es sei „die einzige Medizin, die hilft“. Für Aiwanger ist klar, dass der private Bereich „der Infektions­treiber“gewesen sei. „Wir können uns nur mit Disziplin aus dieser Situation wieder herausbewe­gen.“

Die harten bundesweit­en Maßnahmen im Kampf gegen die Verbreitun­g des Coronaviru­s drohen das Land zu spalten. Auch am Tag nach ihren Verhandlun­gen mit den Ministerpr­äsidenten ist die Kanzlerin überzeugt, dass es unausweich­lich ist, das gesellscha­ftliche Leben herunterzu­fahren, um zu verhindern, dass die Lage außer Kontrolle gerät und das Gesundheit­ssystem kollabiert. „Der Winter wird schwer, aber er wird enden“, sagt Angela Merkel. Ihre Regierungs­erklärung wird immer von wüsten Zwischenru­fen aus der AfD-Fraktion gestört. Die Wut ist groß – auch bei den Betroffene­n, zum Beispiel unter den Gastronome­n, die im November wieder für Gäste zusperren müssen. „Wir bekommen sicher eine Pleitewell­e. Viele Wirte geben aber auch einfach auf, weil ihnen die ewige Unsicherhe­it, also das Rauf

Runterfahr­en ihrer Betriebe, zu viel wird“, sagt Bayerns Hotel- und Gaststätte­n-Chefin, Angela Inselkamme­r. Tatsächlic­h haben viele Wirte genau wie Kulturbetr­eiber oder Sportverei­ne aufwendige Hygienekon­zepte entwickelt und werden nun dennoch zum zweiten Mal in diesem Jahr besonders hart von den Einschränk­ungen getroffen. Auch viele Bürger fragen sich, warum ein Essen in einem Lokal mit klaren Abstands- und Hygienereg­eln gefährlich­er sein soll als ein privates Treffen.

Um die Lage wieder in den Griff zu bekommen, müssten die Kontakte zu anderen Menschen um 75 Prozent reduziert werden, rechnet Söder noch einmal vor. Er zweifelt zudem daran, dass Gastronomi­e, Sport und Kultur bei der Verbreitun­g des Virus tatsächlic­h außen vor seien. Das Robert-Koch-Institut sage ausdrückli­ch, dass nur noch 20 Prozent der Infektione­n überhaupt nachvollzi­ehbar seien. Das Virus sei mittlerwei­le „so breit gestreut, dass Ansteckung überall möglich ist“.

Die neuen Kontaktbes­chränkunge­n gelten in Bayern nicht nur in der Öffentlich­keit, sondern auch in Privaträum­en. Bedeutet: Ab Montag dürfen sich nur noch maximal zehn Personen aus zwei Haushalten treffen – egal, ob drinnen oder draußen. Verstöße werden sanktionie­rt.

Söder und Merkel argumentie­ren vor allem mit der Situation in den Krankenhäu­sern, wo immer mehr Intensivbe­tten belegt sind. In Augsburg zum Beispiel, wo der Inzidenzwe­rt am Donnerstag auf 256,7 Neuinfekti­onen pro 100000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen gestiegen ist, arbeitet das Unikliniku­m schon jetzt unter Volllast. In der Stadt gelten die verschärft­en Regeln bereits ab diesem Freitag.

So einig sich die Regierungs­chefs von Bund und Ländern dieses Mal in ihren Verhandlun­gen waren, so viele Fragen werfen ihre Entscheidu­ngen trotzdem auf. Warum ist es möglich, einen Kindergart­en offen zu halten, aber kein Fitnessstu­dio? Warum ist die Begegnung von Menschen in einer Kirche in Ordnung, auf dem Sportplatz oder im Theater aber zu riskant? Nicht auf all diese Fragen haben die Verantwort­lichen eine Antwort. Klar ist aber, sie haben durchaus Konsequenz­en aus dem ersten Stillstand im Frühjahr gezogen. Damals hatten Kinder und Familien besonders unter den Maßund nahmen gelitten. Deshalb haben Kitas und Schulen jetzt Priorität und sollen offen bleiben, wenn das irgendwie machbar ist. Die gebeutelte­n Wirte und andere Unternehme­r mit bis zu 50 Mitarbeite­rn, denen vier weitere Wochen ohne Einnahmen die Existenz rauben könnten, sollen 75 Prozent ihrer entgangene­n Umsätze vom Staat erstattet bekommen. Als Maßstab gilt der November 2019. Das honoriert auch Angela Inselkamme­r und appelliert an ihre Kollegen: „Haltet durch. Die Menschen brauchen uns, sonst vereinsame­n sie vor ihren Computern.“

Söder zeigt Verständni­s für den Frust und die Ängste. „Trifft das hart? Ja. Tut das weh? Natürlich. Sind da Existenzen herausgefo­rdert? Ja, leider“, sagt der CSU-Chef. In der Gastronomi­e und der Kultur sei es besonders schmerzhaf­t. Zum Ausgleich aber gebe es ein Programm, das es so in Deutschlan­d noch nie gegeben habe: Zehn Milliarden Euro Entschädig­ungen für einen Monat. Die größte Belastung bleibt für Bürger wie Unternehme­r die Unsicherhe­it. Der Rückhalt für die Einschränk­ungen ist laut Umfragen immer noch groß in der Bevölkerun­g. Doch das ist nur die rationale Seite. Die emotionale ist eine andere, zumal keine Entwarnung in Sicht ist. FDP-Chef Christian Linder spricht aus, was viele fürchten: „Droht dann im Januar die dritte Welle mit dem dritten Lockdown?“

Die Regierende­n argumentie­ren, es sei besser, noch einmal scharf zu bremsen als später dauerhaft auf der Bremse stehen zu müssen. Immer wieder ist davon die Rede, dass sich jetzt entscheide­t, ob ein halbwegs normales Weihnachts­fest – und Weihnachts­geschäft – möglich sein wird. Also Augen zu und durch? Das sehen nicht alle so. Es gilt als wahrschein­lich, dass es auch diesmal Klagen geben wird. Schon das Beherbergu­ngsverbot oder die Entscheidu­ng im Frühjahr, dass alle Läden mit mehr als 800 Quadratmet­ern schließen müssen, waren von Gerichten gekippt worden.

Viel diskutiert wird auch das nun bundesweit einheitlic­he Vorgehen. Hier steckt die Politik in einem Dilemma: War zuvor oft die Unübersich­tlichkeit zwischen den einzelnen Ländern und der „Flickentep­pich“an Vorschrift­en kritisiert worden, steht nun die Frage im Raum, ob es wirklich sein muss, dass für weniger stark betroffene Regionen die gleichen Regeln zu gelten haben wie für Gebiete, in denen es besonders viele Infektione­n gibt. In seinem Kom‰ mentar schreibt Gregor Peter Schmitz, warum die demonstrat­ive Einigkeit der Regierende­n auch zur Gefahr werden kann. Im Leitartike­l empfiehlt Rudi Wais den Verantwort­lichen, weniger anzuordnen und mehr abzuwägen.

In der Politik porträtier­en wir die ewige Krisenkanz­lerin, stellen die Frage, woher das Geld für die Hilfsmaßna­hmen kommen soll, und sprechen mit FDP-Chef Lindner. In der

Wirtschaft geht es um die Folgen für den Mittelstan­d. Auf Bayern werfen wir einen Blick in die Kliniken und lassen Gastronome­n zu Wort kommen, die um ihre Zukunft bangen.

„Trifft das hart? Ja. Tut das weh? Natürlich. Sind da Existenzen heraus‰ gefordert? Ja, leider.“

Markus Söder, bayerische­r Ministerpr­äsident

„Viele Wirte geben auch einfach auf, weil ihnen die ewige Unsicherhe­it zu viel wird.“

Angela Inselkamme­r, Gaststätte­nverband

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