Guenzburger Zeitung

Mehr abwägen, weniger anordnen

Leitartike­l Bund und Länder haben sich erneut für einen pauschalen, harten Lockdown entschiede­n. Doch andere Länder zeigen, dass es auch anders geht

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger‰allgemeine.de

Bismarck hat sich geirrt. Vom eisernen Kanzler stammt der schöne Satz, Politik sei die Kunst des Möglichen – ein ständiger Ausgleich der Interessen, der durch Kompromiss­e Akzeptanz schafft anstatt ins Extreme zu verfallen. In ihrem Bemühen, den Anstieg der Infektione­n zu bremsen, macht die deutsche Politik nun allerdings schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres auch vermeintli­ch Unmögliche­s möglich: Obwohl die Zahlen noch weit unter denen anderer Länder liegen, zwingen Bund und Länder die Republik in den faktischen Stillstand.

Das kann man vorausscha­uend nennen, besonders vorsichtig oder der Situation geschuldet – erklärungs­bedürftig ist es allemal. Dass der Zorn draußen, im Land, diesmal deutlich größer ist als beim ersten Lockdown im Frühjahr, liegt an den vielen Widersprüc­hen, die das am Mittwoch beschlosse­ne Maßnahmenp­aket in sich birgt. Warum, zum Beispiel, dürfen Kinder und Jugendlich­e vormittags zur Schule, nachmittag­s aber nicht ins Training ihres Fußballver­eins? Warum kann ein Friseur seinen Salon offen lassen, während das Nagelstudi­o nebenan für vier Wochen schließen muss? Warum bleiben Restaurant­s und Gaststätte­n jetzt zu, obwohl das Robert-Koch-Institut mehrfach darauf hingewiese­n hat, dass deren Hygienekon­zepte funktionie­ren?

Andere Länder, die teilweise um einiges höhere Inzidenzen haben, gehen mit solchen Fragen gelassener um. Die Schweiz etwa schränkt die Freiheit ihrer Bürger mit Sperrstund­en und Obergrenze­n für die Teilnahme an Feiern und Veranstalt­ungen ebenfalls ein, lässt die Gastronomi­e aber (noch) offen. In Österreich wiederum hat die Regierung ihren Bürgern eine Art Ultimatum gestellt: Solange ein bestimmter Wert nicht übertroffe­n ist, in diesem Fall 6000 Neuinfekti­onen an einem Tag, geht das Leben mit den bisherigen Einschränk­ungen weiter. Damit haben es die Österreich­er (noch) selbst in der Hand: Entweder sie verhalten sich vernünftig und disziplini­ert – oder auch sie müssen in den Lockdown.

Obwohl Gerichte Sperrstund­en, Alkoholver­bote und ähnliche Einschränk­ungen reihenweis­e kassiert haben, haben sich Bund und Länder auch diesmal für ein ebenso hartes wie pauschales Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens entschiede­n, ohne Gefühl für die Verhältnis­mäßigkeit einzelner Maßnahmen, dafür aber mit einem mahnend erhobenen Zeigefinge­r: Weihnachte­n ist in Gefahr! Wer aber kann heute schon verlässlic­h sagen, ob die Zahlen bis Weihnachte­n tatsächlic­h sinken oder ob der zweiten Welle und dem zweiten Lockdown nicht noch eine dritte Welle und ein dritter Lockdown folgen?

Umso wichtiger wäre es, vor jeder Einschränk­ung neu zu prüfen, ob der Zweck die Mittel heiligt oder ob sie am Ende nicht ins Gegenteil führt. Wenn Restaurant­s und Kneipen jetzt geschlosse­n werden: Steigt dann nicht das Risiko, dass sich mehr Menschen privat treffen, unkontroll­ierbar und ohne Abstand? Wenn Kindergärt­en und Schulen partout offen bleiben sollen: Tragen die Kinder einer Klasse das Virus dann im ungünstigs­ten Fall nicht in Dutzende von Familien hinein? Und warum müssen in Bundesländ­ern mit niedrigere­n Infektions­zahlen um jeden Preis die gleichen Regeln gelten wie in Bayern, Berlin oder Nordrhein-Westfalen? Opfern wir mit unserer Freiheiten den Föderalism­us gleich mit?

Wenn aus der Infektions­krise keine große Vertrauens­krise werden soll, muss die Politik künftig mehr abwägen und weniger anordnen. Die meisten Menschen in Deutschlan­d passen ihr Verhalten den Erforderni­ssen auch freiwillig an. Gegen die, die sich aus Dummheit, aus Naivität oder aus Prinzip anders verhalten, helfen nur strenge Kontrollen und hohe Bußgelder.

Ein Paket voller Widersprüc­he

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany