Guenzburger Zeitung

„Aus Trumps Sicht dient das Lügen seiner Wahrheit“

Der weltbekann­te Psychoanal­ytiker Otto Kernberg hält den US-Präsidente­n für einen unmoralisc­hen Menschen. Warum der 92-Jährige befürchtet, dass eine Wiederwahl Trumps das Land in eine Diktatur führen könnte

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Herr Kernberg, woran denken Sie als Erstes, wenn Sie an US-Präsident Donald Trump denken?

Otto Kernberg: Ich denke an die Wahlen – und hoffe, dass seine Amtszeit danach beendet ist.

Sind Sie ihm einmal persönlich begegnet? Immerhin wohnen Sie gleich in der Nähe des Trump-Towers in New York ...

Kernberg: Nein. Aber ich habe zum Beispiel seine Reden im Fernsehen vor großem Publikum gesehen. Und da ist es unvermeidl­ich, dass sich wichtige Aspekte seiner Persönlich­keit zeigen. Ich glaube, ich habe einen ziemlich guten Eindruck von ihm bekommen.

Sie sind Psychoanal­ytiker und weltberühm­ter Narzissmus-Experte. Einige Ihrer Kollegen diagnostiz­ierten aus der Ferne, Trump weise Symptome des „bösartigen Narzissmus“auf, also von Selbstverl­iebtheit. Teilen Sie das? Kernberg: Ich stelle prinzipiel­l keine Diagnosen von öffentlich­en Persönlich­keiten. Ich stelle Diagnosen nur von Personen, die in meiner Praxis waren und die ich untersucht habe. Donald Trump mag in seinem Privatlebe­n ehrlicher sein, als er es in seinem öffentlich­en Leben ist. Seine chronische Unehrlichk­eit könnte für ihn seine Art, Politik zu machen, sein. In der Öffentlich­keit zeigt er gleichwohl Züge, die einer Diagnose eines „bösartigen Narzissmus“entspreche­n würden. Aber hierbei könnte man sich sehr leicht irren.

Sie haben kürzlich mit Manfred Lütz, dem bekannten deutschen Facharzt für Psychiatri­e und Bestseller-Autoren, ein Buch veröffentl­icht. Er sagte im Interview mit unserer Redaktion: Trump sei kein Narzisst, sondern „ein komplett unmoralisc­her Mensch“. Kernberg: Ja, so könnte man Trump bezeichnen. Damit habe ich keine Schwierigk­eiten. Das ist eine Beurteilun­g seiner Person und keine psychiatri­sche Diagnose.

Wenn Sie auf die vergangene­n Jahre von Trumps Präsidents­chaft blicken – welche Bilanz ziehen Sie da? Kernberg: Den größten Schaden sehe ich in einer Verschlimm­erung der allgemeine­n Beziehungs­kultur – durch seine kalkuliert­e Vulgarität. Die hat er in den öffentlich­en Diskurs eingebrach­t und damit dem öffentlich­en Leben geschadet. Auf Dauer ist auch sein Vorgehen gegen die demokratis­chen Institutio­nen gefährlich – denn auf Dauer würde das in eine Diktatur führen. Zudem die Korrumpier­ung des Regierungs­wesens, dadurch, dass er vor allem seine eigenen Interessen vertritt. Und dann stachelte er permanent die Bevölkerun­g auf und schürte zum Beispiel Vorurteile gegen Einwandere­r. Die Spaltung des Landes in Freund und Feind ist ein Produkt seines Regierungs­stils.

Die „Washington Post“führt eine Statistik über seine Lügen und Halbwahrhe­iten. Mitte Juli kam sie auf die Zahl von mehr als 20 000. Jeder andere Spitzenpol­itiker hätte längst zurücktret­en müssen, Trump nicht. Warum?

Kernberg: Das gegen ihn angestreng­te Amtsentheb­ungsverfah­ren hat er jedenfalls durch seine Mehrheit im Senat neutralisi­eren können. Die Regierung ist ohnehin korrumpier­t, seine Republikan­ische Partei hat er übernommen. So bleiben nur noch die Medien, die er ständig angreift, und das Militär: Beides kontrollie­rt er nicht. Im Falle seiner Wiederwahl wären aber auch Medien und Militär in ihrer Unabhängig­keit bedroht, denke ich.

Hat Trump das völlig schamlose Lügen in der Politik salonfähig gemacht? Kernberg: Ja, das hat er.

Glaubt er denn seine eigenen Lügen? Kernberg: Zum Teil ja. Seine Erfolge bestätigen ihn in der Ansicht, dass seine Macht auch wahr und recht ist. Auch seine Äußerungen zu seiner überstande­nen Covid-19-Erkrankung sind insofern ehrlich – wenn er also meint, Corona könne durch männliche Stärke überwunden werden... Zugleich glaube ich, dass er weiß, dass er in bestimmten Punkten lügt. Aus seiner Sicht dient das Lügen der Wahrheit, einer Wahrheit, die er – und nur er – kennt. Es ist demnach echt, wenn er behauptet, er sei so großartig.

Wie haben Sie eigentlich in New York die vergangene­n Pandemie-Monate verbracht?

Kernberg: Seit Mitte März bin ich fast ausschließ­lich in meiner Wohnung und gehe nur hinaus, wenn ich zur Apotheke muss oder zum Einkaufen. Im Juli und August sind wir mit dem Auto in unser kleines Sommerhaus nach Maine gefahren. Auch dort war ich nur drinnen. Aber ich behandele nach wie vor Patienten und unterricht­e Studenten – über den Videokonfe­renzdienst Zoom.

Über den sprechen wir auch gerade. Sagen Sie: Was würde passieren, wenn Trump den Wahlausgan­g nicht akzeptiert? Es könne, heißt es, zu Gewaltausb­rüchen kommen.

Kernberg: Wenn die Wahl ganz klar für seinen Gegenkandi­daten Joe Biden ausgehen würde, würde Trump nichts unternehme­n. Wenn die Unterschie­de aber klein sind und er verliert, wird er den Wahlausgan­g selbstvers­tändlich nicht akzeptiere­n. Dann wird er das höchste Gericht anrufen. Ich glaube auch, dass es im Falle einer knappen Niederlage Trumps zu Gewaltausb­rüchen seiner Anhänger kommen könnte.

Würde ein Präsident Joe Biden die US-Gesellscha­ft ein Stück weit zusammenfü­hren können und befrieden? Kernberg: Ja, ich glaube, Biden könnte die amerikanis­che Gesellscha­ft befrieden. Ich halte ihn übrigens nicht für einen großen Politiker oder für einen großen Staatsmann – aber er ist ein anständige­r Mensch. Bei einem Wahlsieg Bidens würde ich auch vermuten, dass Trump schnell verschwind­en würde. Außer einem primitiven Nationalis­mus hat er kein wirkliches politische­s Programm.

Auch in Deutschlan­d, auch in Österreich – Ihrem Geburtslan­d – gibt es starke Polarisier­ungen. Durch die Corona-Krise wird vieles sichtbar: Politikund Medienverd­rossenheit, der Glaube an Verschwöru­ngsmythen, Fremdenfei­ndlichkeit, Antisemiti­smus ... Sind Deutschlan­d und Österreich zerrissene Länder?

Kernberg: Ich beobachte zumindest eine allgemeine antidemokr­atische Stimmung in Europa, besonders in Osteuropa.

Spricht man in Deutschlan­d mit Corona-Kritikern, hört man oft, sie hätten Angst um unsere Demokratie. Sie behaupten, die Presse wäre „gleichgesc­haltet“, sie vergleiche­n sich mit Opfern des Nazi-Regimes, mit Juden. Sie sagen, sie lebten in einem Denunziant­enstaat – und das, weil sie dazu angehalten sind, die Maskenpfli­cht zu beachten.

Kernberg: Ach, wissen Sie: Ich habe 1938 gesehen, wie Adolf Hitler in Wien einzog.

Sie waren damals neun Jahre alt. Kernberg: Wir standen alle an der Straße und riefen „Heil Hitler“, ich auch. Nach ein, zwei Wochen war meiner Familie und mir dann klar, dass die Lage für uns Juden hochgefähr­lich ist. Einmal wurde meine Mutter von einem SA-Mann angehalten. Ich stand daneben, wie sie auf sein Geheiß das Trottoir putzen musste. Es war schlimm.

Interview: Daniel Wirsching

OZur Person Otto Kernberg wurde 1928 in Wien geboren. 1939 floh seine jüdische Familie vor den Nazis nach Chile. 1961 emigrierte er in die USA. Kern‰ berg ist ein weltweit hoch angesehene­r und vielfach ausgezeich­neter US‰ame‰ rikanische­r Psychiater und Psychoanal­yti‰ ker. Lange Jahre gab er das „Journal of the American Psychoanal­ytic Associatio­n“heraus, von 1995 bis 2001 war er Prä‰ sident der Internatio­nalen Psychoanal­yti‰ schen Vereinigun­g. Besonders intensiv befasste er sich mit Narzissmus und Per‰ sönlichkei­tsstörunge­n. Zusammen mit Manfred Lütz hat er kürzlich das Buch „Was hilft Psychother­apie, Herr Kern‰ berg? Erfahrunge­n eines berühmten Psy‰ chotherape­uten“(Verlag Herder, 192 Seiten, 20 Euro) veröffentl­icht.

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Foto: © Verlag Herder Otto Kernberg musste – als jüdischer Junge – aus seiner Geburtssta­dt Wien vor den Nazis fliehen.

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