Die Deutschen und ihre Soldaten
Militärgeschichte Der Experte Sönke Neitzel beschreibt die „Truppe“seit dem Kaiserreich. Heute schätzt er ihren Zustand als „kampfunfähig“ein
Krieger brauchen Helden. Aber können Kriegsverbrecher Helden sein? Diese Frage stellt sich in der deutschen Militärgeschichte drängender als in der Tradition anderer Länder. So jedenfalls sieht es die politische Führung der Bundesrepublik – mittlerweile. Aber sah sie es immer so, sahen es alle so und wie sahen es die Militärs? Sönke Neitzel hat den deutschlandweit einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte/ Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam inne. Jetzt legt er unter dem Titel „Deutsche Krieger“eine umfassende Militärgeschichte vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik vor. Er geht von Sedan über Verdun, Weimar, den Blitzkrieg, über die Wehrmachtsverbrechen in Polen und der Sowjetunion bis zu Wiederaufrüstung in beiden deutschen Staaten und deren Vereinigung und schließlich nach Kundus in Afghanistan und endet beim gegenwärtigen, seiner Einschätzung nach „kampfunfähigen“Zustand der Bundeswehr.
Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die horizontale und die vertikale Kohäsion der „Truppe“. Es geht um Begriffe wie „Auftragstaktik“(die Übertragung von viel Entscheidungshoheit auf die Truppenführer im Kampf), um Führung von vorne, also aus den Brennpunkten der Schlacht. Starke Kontinuität stellt er in den „tribal cultures“der einzelnen Waffengattungen (z. B. der Fallschirmjäger) fest. Neitzel stellt die preußisch-deutsche Strategietradition vor, die die Bewegung und Umfassung des Gegners in den Mittelpunkt rückt und die Feuerkraft, insbesondere die schwere Artillerie, eher vernachlässigt. Er führt exemplarisch die Überlegenheit des französischen Generalstabs über den deutschen im Ersten Weltkrieg vor Augen und die Überlegenheit der deutschen Überraschungsangriffe im Zweiten. Den Krieg im Osten ab 1941 beschreibt er realistisch, er schont seine Leser nicht. Die Millionen Opfer und die ungeheuerlichen Verbrechen sind in dieser Eindringlichkeit von deutschen Autoren bislang nicht aufgerufen worden.
Das alles sollte nach 1945 nicht vergessen, aber keineswegs thematisiert werden. Als der Kalte Krieg mit der Wiederbewaffnung im Westen die Wiedererlangung der staatlichen Souveränität befördern sollte und die USA die Wehrmachtsexpertise im Kampf gegen Sowjetrussland für wichtiger als die Besinnung auf den preußisch-deutschen Militarismus hielten, stand anderes auf der Tagesordnung. Neitzel beschreibt den überstürzten Aufbau der Bundeswehr, geht den militärischen Lebensläufen der ersten Führungsgeneration nach. Unbegreifliches fördert er dabei zutage. Das Schlagwort von der „Inneren Führung“blieb weitgehend inhaltsleer und die Vereidigung der Rekruten auf das Grundgesetz konnte so schnell keinen Verfassungspatriotismus bei den Soldaten erzeugen.
Im anderen deutschen Staat wurde die NVA in sowjetischem Sinne aufgebaut. Hier gab es keine Traditionsprobleme. Es war eine Armee der Partei, deren militärische Qualität im Westen hoch eingeschätzt wurde. Wiederholt betont Neitzel, dass nach heutiger Kenntnis nicht davon ausgegangen werden kann, dass im Osten ein Angriffskrieg geplant oder auch nur erwogen wurde. Wozu dann die ganze Hochrüstung in Ost wie West? Eine Frage, die sich heute zwischen den USA und Russland bzw. China wieder stellt.
Die aus beiden deutschen Staaten zusammengeführte Bundeswehr wurde nach den völkerrechtlichen Bestimmungen des 2+4-Vertrages stark verkleinert und als „Friedensdividende“so zusammengespart, dass sie gerade noch den Auslandseinsatz in Afghanistan überstehen konnte. Die Berliner Politik versagte sogar den in Afghanistan kämpfenden Soldaten eine realistische Sinngebung für ihren Einsatz von Leib und Leben. Das vorgebliche Ziel der Befriedung des Landes und des Aufbaus demokratischer Strukturen war nie erreichbar. Tragisches Detail von dort: Der erste deutsche Soldat, der nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Krieg fiel, war ein Russlanddeutscher, dessen Vater noch für die Sowjetunion – ebenfalls in Afghanistan – gekämpft hatte.
» Sönke Neitzel: Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik. Propyläen, 816 S., 35 ¤