Joe Biden greift nach den Sternen
Ein Wahlsieg ist für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten nah. Was er jetzt braucht, sind gute Nerven und gute Anwälte. Denn Donald Trump kämpft. Noch glauben dessen Fans an ihn. Doch nicht einmal mehr auf seinen Haussender ist Verlass
Washington Demonstrativ aufgebracht und mit festem Blick in die Fernsehkameras steht Rudy Giuliani, der persönliche Anwalt von USPräsident Donald Trump, am Mittwoch vor einem Gerichtsgebäude in Philadelphia und empört sich. „Das ist schlimmer als alles, was ich je gesehen habe“, wettert der Mann mit dem Siegelring, und irgendwie muss man an die böse Borat-Satire denken, in der er unfreiwillig eine pikante Rolle spielt. In einer Szene sieht man ihn in einer Hotelsuite eine falsche Reporterin tätscheln. Er wurde hereingelegt.
Giuliani regt sich am Mittwoch über den angeblich gewaltigen Betrug
bei der Auszählung der Stimmzettel in Pennsylvania auf. Der Jurist mit notorischer Vorliebe für steile Verschwörungserzählungen hat sich gerade so richtig in Rage geredet, da saust im rechtskonservativen TV-Sender Fox News ein Blitz über den Bildschirm. Die Redaktion unterbricht die Übertragung für eine „Breaking News“, eine Eilmeldung: Die hauseigenen Analysten sind überzeugt, dass im Nervenkrieg um die amerikanische Präsidentschaft der Bundesstaat Michigan an Joe Biden geht. Damit hat der demokratische Herausforderer 264 Wahlmänner zusammen – 50 mehr als der Republikaner Donald Trump. Nur sechs weniger als die erforderliche Mehrheit.
Es sieht nicht gut aus für den Präsidenten, zumal sein bisheriger Vorsprung in den noch nicht fertig ausgezählten Bundesstaaten Pennsylvania und Georgia von Stunde zu Stunde schrumpft. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb sich Giuliani so aufbläst. Bei der Auszählung gehe es drunter und drüber, behauptet er: „Die Stimmen könnten auch vom Mars sein. Oder Joe Biden kann 5000 abgegeben haben.“
Die Vorwürfe, die Giuliani im Namen des Präsidenten vorträgt, entbehren nach Angaben der OSZEWahlbeobachter jeder sachlichen Grundlage. Aber darum geht es Trump auch gar nicht. Mit seinen Klagen gegen die weitere Auszählung in den umkämpften Bundesstaaten Pennsylvania, Michigan und Georgia will er vor allem Sand ins Getriebe streuen, das Vertrauen in die Legitimität der Wahl untergraben und auf diese Weise noch irAusweg aus seiner drohenden Niederlage finden.
Mit Sicherheit wird der Streit vor dem Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof, landen. Trump setzt auf Richter, die bei kleinsten Unregelmäßigkeiten in seinem Sinne entscheiden. Mit sechs von neun Richtern gibt es eine klare konservative Mehrheit am Supreme Court. Zugleich mobilisiert er mit seiner wilden Rhetorik seine Anhänger und verzögert durch die Forderung nach Neuauszählung der Stimmen in Wisconsin die Feststellung eines amtlichen Endergebnisses.
So also ist die Lage in den USA zwei Tage nach der Schicksalswahl. Der Wettbewerb um den mächtigsten Posten der Welt ist zum Häuserkampf um einzelne Kisten mit Briefwahlstimmen verkommen. Tatsächlich ist der Abstand zwischen Biden und Trump in vielen Bundesstaaten sehr knapp. In Wisconsin sind es bei 3,3 Millionen Stimmen gerade einmal 20000. Die Gerichte könnten wochenlang beschäftigt sein.
Auch wenn Biden in den nächsten Stunden oder Tagen die magische Marke von 270 Wahlleuten erreicht, die ihm Mitte Dezember eine Mehrheit im sogenannten Electoral College sichern sollte, liegt vor dem 77-Jährigen also noch eine extreme Rüttelstrecke. Nach der amerikanischen Verfassung nämlich bleibt Trump noch bis zum 20. Januar im Amt. Erst dann wird der neue Präsident vereidigt. Und angesichts der Corona-Pandemie, der Spaltung der amerikanischen Gesellschaft und der Mehrheitsverhältnisse im Kongress würde auch das Regieren für den Demokraten sicher nicht einfach werden.
Am Mittwochnachmittag tritt Biden in seinem Heimatort Wilmington vor die Presse. Er redet nur fünf Minuten, aber sein Auftritt wirkt wesentlich selbstbewusster als am Vortag. „Hier regiert das Volk, und die Macht wird vom Volk verliehen“, sagt der ehemalige ObamaVize. Das ist ein kaum verdeckter Seitenhieb gegen Trump, der sich schon vorab kurzerhand zum Sieger erklärt hat.
Staatsmännisch verspricht Biden, als Präsident aller Amerikaner die Spaltung im Land überwinden zu wollen. Zugleich macht er klar, dass er jeden Versuch, die Auszählung der Wahl zu behindern, bekämpfen werde. „Jede Stimme zählt“, ruft er in die Halle: „Wir, das Volk, lassen uns nicht mundtot machen, nicht mobben – und wir werden nicht kapitulieren.“
Tatsächlich braucht Biden jetzt vor allem starke Nerven und gute Anwälte. Die Abstände in den umkämpften Battleground-Staaten Georgia, Nevada und North Carolina sind mit jeweils ein paar zehntausend Stimmen denkbar knapp. In Pennsylvania, das mit 20 Wahlmännern den Hauptgewinn im Rennen ums Weiße Haus liefern würde, liegt Trump mit etwa 150000 Stimmen vorn, aber rund eine halbe Million Briefwahlstimmen sind noch nicht ausgezählt. Unter ihnen werden viele Demokraten-Stimmen vermutet. Wenn es am Ende eng wird, dürfte dort vor allem um die sogenannten provisional votes gestritten werden – das sind Stimmen von Wählern, die Briefwahlunterlagen beantragt hatten, dann aber doch ohne diese Dokumente persönlich im Wahllokal erschienen.
Im Grunde sind Rechtsstreitereien über den Wahlausgang in den USA nichts Neues. Im Jahr 2000 dauerte es mehr als einen Monat, bis George W. Bush schließlich die Wahlleute von Florida zugesprochen wurden, die ihn ins Weiße Haus beförderten. Aber noch nie hat ein Präsident einem siegreichen Kontrahenten vorgeworfen, die Auszählung des Ergebnisses systematisch und bewusst zu fälschen. Noch nie war das Land so polarigendeinen siert. Noch nie war die Stimmung so aufgeheizt.
Das ist gefährlich und kann leicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Seit Tagen schon sind aus Furcht davor die Schaufenster der Hotels und Läden in der Innenstadt von Washington mit Holzplatten verbarrikadiert. Etwas abseits der Geschäftsstraßen, am östlichen Ende der National Mall, wird ebenfalls gezimmert. Dort entsteht vor der prachtvollen Kulisse des Kapitols mit seiner stolzen weißen Kuppel die hölzerne Tribüne für die Inauguration des Präsidenten am 20. Januar. Sollte Joe Biden die Mehrheit zusammenbekommen, wäre das ein großer Moment: Der Sohn eines Autohändlers aus Scranton im Nordosten von Pennsylvania wäre der erste Herausforderer in 28 Jahren, der einen amtierenden Präsidenten aus dem Amt jagt – und das auch noch mit der höchsten jemals erreichten Gesamt-Stimmenzahl.
Doch vor dem einstigen ObamaVize läge alles, nur keine einfache Zeit. Er würde das Ruder mitten in einer tödlichen Pandemie und einer wirtschaftlichen Krisenzeit übernehmen und müsste mit geschwächtem politischen Rückhalt regieren.
Bei den Wahlen haben die Demokraten wahrscheinlich fünf Sitze im Repräsentantenhaus verloren. Ihr
Ziel, die republikanische Mehrheit des Senats zu knacken, haben sie nach derzeitigem Stand krachend verfehlt. Der neue Mehrheitsführer in der zweiten Kammer könnte deshalb der alte sein – Mitch McConnell. Und der eiserne republikanische Parteisoldat hat zwei Jahre vor den Midterms genannten Zwischenwahlen wenig Grund, den Demokraten etwa mit der Erhöhung der Unternehmensteuern zu einem Erfolg zu verhelfen. Biden könnte versuchen, mit präsidialen Dekreten eine Ausweitung der Krankenversicherung Obamacare durchzusetzen. Doch über allem wacht ein Supreme Court, der von Trump für Jahrzehnte klar stramm rechts verankert wurde.
Ein Wahlsieg von Biden dürfte also viele Hoffnungen wecken und die linksliberale Basis zu radikalen Forderungen motivieren. Aber in der Praxis wird der Handlungsspielraum eines Präsidenten Biden stark begrenzt sein.
Auf welche Weise auch immer – Donald Trump wird präsent bleiben. Zunächst wird er sich seiner Ablösung auf jede erdenkliche Weise widersetzen und eine geordnete Übergabe der Amtsgeschäfte sabotieren. Er hat auch in den wichtigsten Behörden an entscheidenden Stellen Anhänger installiert. Schließlich wird er über seinen Twitter-Account mit 88 Millionen Followern seine Basis weiter mobilisieren. In amerikanischen Medien ist schon von angeblichen Plänen für die Gründung eines eigenen Fernsehsenders die Rede. Immerhin haben trotz aller seiner Ungeheuerlichkeiten mindestens 68 Millionen Amerikaner für Trump gestimmt – rund sechs Millionen mehr als vor vier Jahren.
Aufgegeben haben die TrumpUnterstützer noch lange nicht. Aber ihre Siegesgewissheit hat gelitten. Es schleichen sich Zweifel ein. Am Tag nach der Wahl wendet sich etwa Radiomoderator Rush Limbaugh an seine Millionen Hörer. Der TrumpFreund ist einer der bekanntesten Rechtskonservativen der USA. Patriot, Polemiker, Verbreiter von Verschwörungserzählungen. Er wisse, sagt er in sein golden glänzendes Mikrofon, dass „viele von euch besorgt seien“und „frustriert“– „völlig zu Recht“. „Ihr spielt nach den Regeln“, die andere Seite nicht. Mit erhobener Stimme ruft Limbaugh: „Behaltet den Glauben, Leute!“Zu sehen in einem Videoclip auf seiner Internetseite. Die besten Tage des Landes lägen noch vor den USA. „Wir haben Trump wiedergewählt!“ Durchhalteparolen als Reaktion auf die Erschütterung mancher Gewissheit von Trump-Fans. So etwas war bis vor kurzem schwer vorstellbar.
Erschüttert ist zum Beispiel die Gewissheit, dass auf Fox News, Trumps Haussender, Verlass ist. Der sorgte weltweit für Schlagzeilen, weil er sich wider Erwarten in Teilen seiner Wahlberichterstattung gegen Trump stellte. Stimmungsmache gegen Biden flimmert schon noch über den Sender. Großes Thema: Trump-Sohn Eric, der den Demokraten heftige Betrugsvorwürfe macht und von „ungezügelter Korruption“spricht. Doch da ist eben auch Moderator Chris Wallace gewesen, der dem Präsidenten vorwarf, zu zündeln, und daran erinnerte, dass noch ausgezählt werde.
Vor allem verkündete der Sender weit vor anderen, dass Joe Biden den Bundesstaat Arizona gewonnen habe. Und während Fox News unablässig den Stand der Auszählung mit 264 Wahlleuten für Biden und nur 214 für Trump einblendet, bleibt der linksliberale Sender CNN – der als Biden-Sprachrohr attackiert wird – zurückhaltend bei 253 zu 213. Gut möglich, dass ausgerechnet Fox News den Sieg Bidens verkünden wird.
Trump und seine Wahlkämpfer sollen sich über den Fall Arizona maßlos geärgert haben. Die Zeitschrift Vanity Fair will gar von einer Quelle erfahren haben, dass Trump Fox News-Gründer Rupert Murdoch am Telefon angeschrien und eine Rücknahme verlangt habe. Der Journalist Gabriel Sherman schreibt von einem „Bürgerkrieg“, der zwischen Trump und Fox News tobe.
So bleibt die US-Gesellschaft bis auf Weiteres gespalten. Die Risse, die das Land durchziehen, wurden vor allem in Deutschland oft und mit Besorgnis beschrieben. Bisweilen zeigen sie sich von einer absurden Seite. „Stoppt die Auszählung!“skandieren am Mittwoch dutzende Trump-Fans vor einem Wahlbüro im Bundesstaat Michigan. Sie fürchten, dass ausbleibende Briefwahlstimmen den Sieg von Biden zementieren könnten. In Arizona hingegen schrumpft der Vorsprung des Demokraten. Dort sind im bevölkerungsreichen Maricopa County hunderte Trump-Fans auf der Straße. Ihre Forderung: „Zählt alle Stimmen aus!“(mit wida)
Trump will Sand ins Getriebe streuen
Biden gibt sich staatsmännisch