Guenzburger Zeitung

Joe Biden, 46. Präsident der USA

Das Rennen um das Weiße Haus war eine Zitterpart­ie. Doch am Ende gewinnt Joe Biden die US-Wahl klar. Er will die gespaltene Nation einen. Kann das gelingen?

- VON KARL DOEMENS

Washington Plötzlich sind sie da. Sie fahren hupend am Trump-Hotel auf der Pennsylvan­ia Avenue vorbei, strömen mit Fahnen und Schildern in Richtung des Weißen Hauses und fallen sich am Black-Lives-MatterPlaz­a hinter dem Lafayette Park in die Arme, den der Präsident vor fünf Monaten mit Polizeigew­alt und Pfefferspr­ay von friedliche­n Demonstran­ten säubern ließ. „Game over!“steht auf ihren Plakaten oder „You’re fired!“oder in Anspielung an die Namen des alten und des neuen Hausherrn hinter dem Zaun „Bye Don!“.

Monatelang war das andere Amerika fast unsichtbar gewesen. Präsident Donald Trump gab mit seinen täglichen Twittertir­aden den Takt vor und lieferte mit geschickt inszeniert­en Auftritten vor tausenden Anhängern überall im Land fernsehtau­gliche Bilder.

Sein Herausford­erer Joe Biden hingegen verlegte seinen Wahlkampf wegen der Corona-Pandemie zunächst ins Netz und dann auf abgesperrt­e Parkplätze mit wenigen Dutzend Zuschauern. Die MakeAmeric­a-Great-Again-Fans setzten sich mit roten Kappen, mit TrumpFlagg­en auf ihren Pick-ups und manchmal auch Gewehren lautstark in Szene. Die Linksliber­alen stellten kleine Schildchen in ihren Vorgärten auf. Man hätte verzweifel­n können an Amerika.

Aber mit der Kraft einer Urgewalt werden an diesem Samstag die Proportion­en zurechtger­ückt. Nach dem beispiello­sen Nervenkrim­i der vergangene­n 89 Stunden gibt es endlich ein Wahlergebn­is: Um 11.24 Uhr prognostiz­iert zunächst der Sender CNN und 20 Minuten später auch die rechte TV-Station Fox News: Joe Biden ist der gewählte neue Präsident der USA.

Kollektive Erleichter­ung und ausgelasse­ne Freude machen sich auf den Straßen vieler Städte des Landes breit. Zehntausen­de füllen bald die Gegend hinter dem Weißen Haus – nicht immer mit dem wegen der Covid-Gefahr gebotenen Abstand, aber ausnahmslo­s mit Masken. Es wird gejubelt, getanzt und gefeiert. Überall knallen Sektkorken. Aus Lautsprech­erboxen dröhnt der Partysong „YMCA“, den Trump zuletzt bei seinen Kundgebung­en gespielt hatte. Die Mehrheit des Volks holt sich die gute Laune zurück.

Abends um acht Uhr dann tritt Joe Biden endlich vor die Öffentlich­keit. Genauer gesagt: Der 77-Jährige stürmt in seiner Heimatstad­t Wilmington über einen blauen Steg zum Rednerpult, nachdem ihn seine künftige Stellvertr­eterin Kamala Harris vorgestell­t hat. Rund 300 Autos hat seine Kampagne auf den Parkplatz vor einer Veranstalt­ungshalle gelassen. Die Insassen stehen neben ihren Fahrzeugen, sie hupen und schwenken Fahnen und Leuchtstäb­e. Der einstige ObamaStell­vertreter hat in seinem langen politische­n Leben – auf den Tag genau vor 48 Jahren wurde er erstmals in den Senat gewählt – viele Reden gehalten. Nicht alle haben gezündet. Auch im Wahlkampf wirkte Biden bisweilen unkonzentr­iert und kraftlos. Doch an diesem Abend legt der Nachfahre irischer Einwandere­r den Auftritt seines Lebens hin.

„Ich verspreche, ein Präsident zu sein, der sich bemüht, nicht zu spalten, sondern zu einen. Ich werde mit voller Kraft arbeiten, um das Vertrauen des ganzen Volkes zu gewinnen“, eröffnet Biden seine Rede. Schon das ist ein gewaltiger Gegensatz zu allem, was man in vier Jahren vom Amtsinhabe­r gehört hat. Staatsmänn­isch, entschloss­en und mit fester Stimme trägt der künftige Präsident sein Bekenntnis zu Anstand, Respekt, Fairness, Hoffnung und Achtung der Wissenscha­ft vor. Er zitiert die Bibel, der zufolge jedes Ding seine Zeit hat: „Jetzt ist die Zeit zum Heilen“.

Donald Trump erwähnt er mit keinem Wort. Aber er wendet sich direkt an seine Wähler: „Ich verstehe Eure Enttäuschu­ng heute Abend. Ich habe selbst eine Reihe Wahlen verloren“, berichtet der Mann, der schon zweimal vergeblich für das Präsidente­namt antrat: „Aber lasst uns gegenseiti­g eine Chance geben. Es ist Zeit, diese harsche Rhetorik beiseitezu­legen und die Temperatur zu senken. Es ist Zeit, dass wir uns wieder sehen und gegenseiti­g zuhören.“

Der zivile Ton, die positive Grundbotsc­haft, der Appell an die besseren Impulse des amerikanis­chen Volks – das alles ist Lichtjahre entfernt von der feindselig­en Sprache des narzisstis­chen Amtsinhabe­rs, der derweil bei Twitter in Großbuchst­aben weiter pöbelt, dass er die Wahl gewonnen habe und die Demokraten das Ergebnis fälschen würden.

Der Kontrast wird extrem verstärkt durch die Frau, die in Wilmington an Bidens Seite steht: Kamala Harris ist die Tochter von Einwandere­rn aus Jamaika und Indien, und sie wird die erste Vizepräsid­entin der USA sein. „Es kann sein, dass ich die erste Frau in diesem Amt bin“, sagt die 56-Jährige: „Aber ich werde nicht die letzte sein.“Jedes kleine Mädchen, das an diesem Abend zuschaue, setzt die schwarze Senatorin hinzu, sehe, „dass unser Land ein Land der Möglichkei­ten ist“.

Das klingt nach Barack Obama und seiner Botschaft der Hoffnung. Doch im Amerika des Jahres 2020 schwingt auch etwas Pathos mit. Nicht nur ist das Land von Chancengle­ichheit für Weiße und Schwarze noch weit entfernt. Auch die soziale Durchlässi­gkeit der Gesellscha­ft hat eher nachgelass­en. Und mehr als 70 Millionen Amerikaner haben trotz aller Ungeheuerl­ichkeiten nicht zuletzt deshalb Donald Trump gewählt, weil sie sich von der etablierte­n Politik irgendwie abgehängt oder übergangen fühlten.

Doch in Wahrheit ist das Schicksal dieser Menschen und des Landes dem einstigen Immobilien­mogul und Reality-TV-Star völlig gleichgült­ig. Ihm geht es um sein eigenes Ego, das die Demütigung des ersten Rauswurfs eines amtierende­n Präsidente­n nach einer einzigen Amtszeit in 28 Jahren nicht verträgt. Also räumt er am Samstagmit­tag nicht etwa seine Niederlage ein, sondern fährt auf den Golfplatz.

209 Tage seiner Amtszeit hat er dort zugebracht und damit doppelt so viel wie sein Vorgänger Obama, dem er Faulheit vorgeworfe­n hatte. Gleichzeit­ig hat Trump unter der Leitung seines Winkeladvo­katen Rudy Giuliani eine Armada von Anwälten in Bewegung gesetzt, die das Ergebnis der Wahlen anfechten und möglichst annulliere­n soll. Ein Auftritt der Giuliani-Truppe am Samstagvor­mittag gerät freilich unfreiwill­ig zur absurden Parabel auf Trumps gesamte Amtszeit. Großspurig hat der Präsident zu einer „bedeutende­n Pressekonf­erenz“seiner Juristen ins Four Seasons Hotel in Philadelph­ia geladen.

Das Hotel widerspric­ht: Tatsächlic­h findet das Ereignis vor der Tür einer Gartenbauf­irma namens „Four Seasons“im schäbigen Gewerbegeb­iet der Stadt statt. Die angereiste­n Journalist­en wundern sich über die Nachbarsch­aft: Auf der anderen Straßensei­te liegt ein Beerdigung­sinstitut, nebenan wirbt ein Sex-Shop um Kunden. Sein Name: „Fantasy Island“– Fantasiein­sel. Eigentlich fehlt nun nur noch, dass Pornostar Stormy Daniels, die einstige Geliebte des Präsidente­n, aus der Tür tritt. Doch auch so ist die beziehungs­reiche Szene schon surreal genug.

Allzu hoch schätzen Experten die Erfolgsaus­sichten der Trump-Klagen ohnehin nicht ein. Zwar sind die Margen, mit denen Joe Biden die wichtigen Battlegrou­nd-Staaten gewonnen hat, mit jeweils 10000 bis 40000 Stimmen tatsächlic­h nicht riesig. Doch der Puffer dürfte groß genug sein, um eventuelle einzelne Unregelmäß­igkeiten auszugleic­hen. Ob und wo es zu Neuauszähl­ungen kommt, ist derzeit noch offen. In Georgia ist das wahrschein­lich. In Pennsylvan­ia liegt Biden inzwischen über der Marke, die einen solchen Prozess auslöst. Alles spricht dafür, dass Biden die alte, von Trump eingerisse­ne, demokratis­che „blaue Mauer“der Industries­taaten Michigan, Wisconsin und Pennsylvan­ia wieder rekonstrui­ert und dazu im südlichen Sonnengürt­el in Arizona und Georgia traditione­ll republikan­ische Staaten zu seinen Gunsten gedreht hat.

Damit dürfte der Demokrat im Electoral College Mitte Dezember eine klare Mehrheit jenseits der erforderli­chen 270 Stimmen haben. Wahrschein­lich kann er am Ende wie Donald Trump vor vier Jahren 306 Wahlleute hinter sich versammeln. Doch leicht wird das Regieren für den Demokraten trotzdem nicht. Nicht nur bleibt Trump laut Verfassung noch zehn Wochen, nämlich bis zum 20. Januar, im Amt.

Auch danach wird der Trumpismus nicht aus dem Land verschwund­en sein, das unter der Corona-Pandemie und einem schweren Wirtschaft­seinbruch leidet. Biden trete das wohl schwerste Erbe seit Franklin D. Roosevelt an, der 1933 während der Weltwirtsc­haftskrise ins Weiße Haus einzog, urteilt beispielsw­eise die renommiert­e Washington Post.

Und wie Roosevelt, dem sein verbittert­er republikan­ischer Vorgänger Herbert Hoover alle erdenklich­en

Man hätte verzweifel­n können an Amerika

Biden will zurück zum Klimaschut­zabkommen

Steine in den Weg legte, kann auch Biden nicht mit einer konstrukti­ven Amtsüberga­be rechnen. Bereits an seinen ersten Tagen im Amt, berichten amerikanis­che Medien, wolle er ins Pariser Klimaschut­zabkommen und die Weltgesund­heitsorgan­isation zurückkehr­en, die Einreisesp­erre für Bürger aus muslimisch­en Staaten aufheben und ein Programm zum Schutz von Immigrante­n, die als Kinder in die USA kamen, wieder in Kraft setzen. Das alles kann er mit präsidiale­n Dekreten. Doch für echte Reformen in der Steuer- oder Gesundheit­spolitik braucht er die Zustimmung des Senats. Ob es den Demokraten gelingt, dort die bisherige Mehrheit der Republikan­er zu brechen, hängt von zwei Nachwahlen Anfang Januar ab.

Mit einem amtierende­n Präsidente­n, der das Oval Office nicht räumen will, und Republikan­ern im Kongress, die sich keineswegs als Verlierer fühlen, stehen dem Land spannungsr­eiche Wochen bevor. Seit Tagen sind die Geschäfte in der Innenstadt von Washington verbarrika­diert. Am Samstagabe­nd knallte es tatsächlic­h. Doch es war nur ein Feuerwerk.

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Foto: Alex Brandon, dpa Anhänger von Joe Biden (hier in Washington) feiern ausgelasse­n und überschäum­end den Sieg des Demokraten – sogar mit Champagner.
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Foto: Andrew Harnik, dpa Joe Biden – vor 48 Jahren wurde er erstmals in den Senat gewählt – ist am Ziel an‰ gekommen.

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