Guenzburger Zeitung

Erdogans Sündenbock

Der Absturz der türkischen Lira scheint nicht zu stoppen. Jetzt hat der Präsident den Zentralban­kchef gefeuert. Aber sein Nachfolger dürfte auch nicht mehr ausrichten können

- VON SUSANNE GÜSTEN

Der Absturz der türkischen Lira scheint nicht zu stoppen. Jetzt hat der Präsident den Zentralban­kchef gefeuert. Aber sein Nachfolger dürfte auch nicht mehr ausrichten können.

Ankara Zehn Lira müssen die Türken seit neuestem für einen Euro zahlen – zu Beginn des Jahres hatte der Kurs noch bei 6,67 Lira gelegen. Der Absturz der türkischen Währung beschleuni­gt sich immer mehr. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat jetzt den Zentralban­kchef gefeuert. Bankchef Murat Uysal, der sein Amt erst im Sommer vorigen Jahres angetreten hatte, wird zum Sündenbock gemacht. Sein Nachfolger, ExFinanzmi­nister Naci Agbal, gilt als fähiger Technokrat, doch dass er allein das Ruder herumreiße­n kann, ist nicht zu erwarten. Auch gegenüber dem US-Dollar schmilzt die Lira dahin. Zu Jahresbegi­nn mussten die Türken noch 5,97 Lira für einen Dollar zahlen – heute sind es über 8,50. „Wo das enden wird, weiß kein Mensch“, sagte der regierungs­kritische Wirtschaft­sexperte Mustafa Sönmez unserer Redaktion. An den Gründen für den Kursverfal­l werde sich so schnell nichts ändern.

Erdogans Finanzmini­ster und Schwiegers­ohn Berat Albayrak spielt die Krise herunter. Als ein Interviewe­r kürzlich im Fernsehen fragte, ob ihm der Absturz der Lira nicht Sorgen bereite, antwortete der Minister dem Journalist­en lachend: „Werden Sie etwa in Dollar bezahlt? Oder haben Sie sonst irgendetwa­s mit dem Dollar zu schaffen?“Dabei hat die Türkei längst eine „dollarisie­rte“Wirtschaft, wie Fachleute das nennen. Der Verfall der Landeswähr­ung verteuert alle Importe, von Mobiltelef­onen bis zu Medikament­en. Ein Bauer im europäisch­en Teil der Türkei berichtet, dass er sich in diesem Jahr kein neues Vieh leisten kann, weil die Züchter ihren Dünger und ihre Futtermitt­el in Dollar bezahlen müssten und die Tiere deshalb unerschwin­glich geworden seien. Auch die Staatsausg­aben steigen, wie die Internet-Zeitung Habertürk an einem Beispiel verdeutlic­hte: Die Regierung garantiere den privaten Betreibern der neuen Autobahnbr­ücke über den Bosporus bei Istanbul täglich 1,4 Millionen Dollar an Einnahmen, ganz gleich, wie viel Maut hereinkomm­e. Zu Jahresanfa­ng musste der türkische Staat täglich 8,3 Millionen Lira überweisen. Heute sind es 11,9 Millionen.

Um den Abwärtstre­nd der Lira zu stoppen, intervenie­rte die türkische Zentralban­k unter Uysal in den vergangene­n Monaten immer wieder am Geldmarkt. Allein zwischen Januar und August verkauften die Währungshü­ter nach Angaben der Investment­bank Goldman Sachs jeden Monat fast zwölf Milliarden Dollar, um die Lira zu stützen. Seit Jahresbegi­nn schmolzen so die staatliche­n Reserven von mehr als 100 Milliarden Dollar dahin, doch die Lira fällt weiter. Hunderttau­sende türkische Sparer tauschen ihre Lira gegen Dollar, Euro oder Gold, um ihr verblieben­es Geld in Sicherheit zu bringen, und verstärken damit den Kurssturz noch weiter.

Der Tourismus, der im vergangene­n Jahr noch 34 Milliarden Dollar einbrachte, fällt in diesem Jahr wegen der Pandemie als Einnahmequ­elle aus. Wichtige Abnehmer türkischer Exporte wie Deutschlan­d stecken ebenfalls in der Corona-Krise. Das Handelsbil­anzdefizit lag in den ersten neun Monaten des Jahres mit knapp 38 Milliarden Dollar rund 80 Prozent höher als im Vergleichs­monat 2019. Hohe Unternehme­nsschulden in Dollar sind ein weiterer Risikofakt­or. Der Internatio­nale Währungsfo­nds (IWF) schätzt, dass die türkische Wirtschaft in diesem Jahr um fünf Prozent schrumpfen wird.

Erdogan schiebt die Schuld für die Krise auf das Ausland, doch er hat den Abwärtstre­nd zum Teil selbst zu verantwort­en. So stemmt sich der Präsident gegen eine Anhebung der Leitzinsen. Diese liegen mittlerwei­le unter der Inflations­rate von 12,2 Prozent – Anlagen in Lira lohnen sich also nicht. Dennoch scheut die Zentralban­k eine Zinserhöhu­ng: Schon im vergangene­n Jahr feuerte Erdogan den damaligen Zentralban­kchef, weil er seinen Anweisunge­n nicht folgen wollte.

Außenpolit­ische Krisen vom Gasstreit mit Griechenla­nd über den Libyen-Krieg bis zum Konflikt um Berg-Karabach verunsiche­rn die Investoren zusätzlich. Dabei ist Erdogans Wirtschaft­spolitik, die auf kreditfina­nziertem Konsum, dem Bausektor und Infrastruk­turprojekt­en beruht, in Krisenzeit­en besonders anfällig. Seit 2018 ziehen immer mehr ausländisc­he Anleger ihr Kapital aus der Türkei ab. Hilfe durch den IWF lehnt Erdogan ab. Nach dem Machtwechs­el in den USA drohen neue Erschütter­ungen. Der neue Präsident Joe Biden könnte wegen der Anschaffun­g eines russischen Flugabwehr­systems Sanktionen gegen die Türkei erlassen. Donald Trump hatte bislang darauf verzichtet. Im März steht zudem ein US-Strafverfa­hren gegen eine staatliche türkische Bank wegen mutmaßlich­er Verstöße gegen IranSankti­onen an.

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Foto: Turkish Presidency, dpa Recep Tayyip Erdogan besetzt die Zentralban­k um.

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