Guenzburger Zeitung

Entsetzen nach „Querdenken“-‰Demo

Tausende „Querdenker“erzwingen einen Marsch über den Leipziger Ring. Die Polizei lässt sie ziehen. Jetzt wird der Ruf nach Aufarbeitu­ng laut

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Leipzig Eine große „Querdenken“-Demonstrat­ion in Leipzig mit unzähligen Verstößen gegen Hygienereg­eln hat im Bund und in Sachsen den Ruf nach Konsequenz­en laut werden lassen. Am Samstag hatten im Zentrum der ostdeutsch­en Stadt mindestens 20000 Menschen gegen die Corona-Beschränku­ngen demonstrie­rt. 90 Prozent der Teilnehmer trugen laut Polizei keine Masken. Am Abend erzwang die Masse einen Gang über den symbolträc­htigen Leipziger Ring, obwohl ein Aufzug ausdrückli­ch nicht gestattet war. Zahlreiche Politiker warfen der Leipziger Polizei und dem sächsische­n Innenminis­ter am Sonntag Versagen vor. Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD) forderte eine „gründliche Aufklärung“.

Leipzig Sie kamen zu Zigtausend­en nach Leipzig, missachtet­en quasi kollektiv die Corona-Regeln und zogen am Ende triumphier­end über den Leipziger Innenstadt­ring, die Route der legendären Montagsdem­os in der DDR. Aus ganz Deutschlan­d, das war an den vielen Dialekten der Teilnehmer zu hören, waren Anhänger der „Querdenken“-Bewegung am Samstag zu ihrer Demonstrat­ion gegen die Corona-Politik angereist. Ihr Protest begann friedlich – und doch provoziert­en sie mit der massenhaft­en Missachtun­g der Corona-Regeln die Auflösung der Veranstalt­ung.

Zweieinhal­b Stunden ließ die Stadt die nach Polizeiang­aben 20 000 Teilnehmer – andere Beobachter gingen von mehr als doppelt so vielen aus – ihren Unmut über die Corona-Einschränk­ungen kundtun. Dann löste die Stadt die Veranstalt­ung auf, und die bis dahin ruhige Stimmung begann zu kippen. Faktisch blieb die große Masse der Teilnehmer einfach an Ort und Stelle. Die Polizei forderte sie zum Abzug auf – doch die „Querdenker“beharrten darauf, über den Innenstadt­ring zu ziehen. Dabei kam es zu einzelnen Schlägerei­en zwischen Teilnehmer­n und Gegendemon­stranten, an einer Polizeispe­rre flogen Raketen, Rauchtöpfe wurden gezündet. Die Journalist­engewerksc­haft DJU meldete am Abend mindestens 32 Attacken auf Reporter, die im Wesentlich­en von „Querdenken“-Teilnehmer­n ausgegange­n seien. Die Polizei bestätigte, dass Journalist­en angegriffe­n wurden. Nur mit massiver Gewalt habe man die Demonstran­ten daran hindern können, sagte Polizeispr­echer Olaf Hoppe. Eine weitere Eskalation habe man vermeiden wollen und den Ring deshalb freigegebe­n. Das Ziel, den Infektions­schutz zu sichern, sei hingegen nicht erreicht worden, räumte Leipzigs Polizeiprä­sident Torsten Schultze ein. „Man bekämpft eine Pandemie nicht mit polizeilic­hen Mitteln, sondern nur mit der Vernunft der Menschen“, fügte er hinzu.

Sprüche wie „Frieden, Freiheit, Diktatur“und „Merkel muss weg“skandierte­n die Teilnehmer, als sie die Protestrou­te der Freiheitsb­ewegung von 1989 abschritte­n. Im Vorfeld hatten sich Stadt und Organisato­ren über die Veranstalt­ung mitten in der Corona-Krise gestritten.

Die Stadt hatte damit gerechnet, dass die Demonstran­ten sich nicht an die Hygiene-Regeln halten würden. Um das Infektions­risiko gering zu halten, wollte sie die Veranstalt­ung an den Stadtrand legen. Das sächsische Oberverwal­tungsgeric­ht (OVG) kassierte das jedoch am Samstagmor­gen und ließ die Kundgebung auf dem Augustuspl­atz zu – unter der Bedingung, dass die Maskenpfli­cht eingehalte­n und die Teilnehmer­zahl 16 000 nicht überschrei­ten wird. „Das OVG hat uns eine Entscheidu­ng auf den Tisch gelegt, die nur sehr, sehr schwer umzusetzen war“, sagte Stadt-Sprecher Matthias Hasberg. Oberbürger­meister Burkhard Jung zeigte sich am Sonntag „empört“über den Richterspr­uch. Die Kommune sei von Bund und Land alleinegel­assen worden. Polizei und Ordnungsam­t seien am Ende überforder­t gewesen.

SPD, Linke und Grüne in Sachsen forderten Aufklärung im Innenaussc­huss. Ein „Planungsde­saster“habe dazu geführt, dass sich der Staat von Demokratie­feinden habe vorführen lassen, erklärte der sächsische Grünen-Innenexper­te Valentin Lippmann. Auch Bundespoli­tiker wie Außenminis­ter Heiko Maas und Justizmini­sterin Christine Lambrecht (beide SPD) verurteilt­en die Corona-Demo. Sachsens Innenminis­ter Roland Wöller (CDU), als Polizei-Zuständige­r selbst in der Kritik, nannte die Demo die „größte Corona-Party“. Es sei unverantke­ine wortlich gewesen, sie in der Innenstadt zuzulassen. Die Veranstalt­er kündigten an, gegen die Auflösung zu klagen. Die Ordnungswi­drigkeit hätte einzeln festgestel­lt werden müssen bei jedem Demonstran­ten, sagte „Querdenken“-Initiator Michael Ballweg, der selbst nicht in Leipzig war. Die Behörden hätten den Aufbau bis zur OVG-Entscheidu­ng behindert – deshalb hätten nicht genug Lautsprech­ertürme errichtet werden können, um die Masse zu entzerren. Doch am Samstagabe­nd hätten die Lautsprech­ertürme nichts genutzt: Zehntausen­de zogen über den Innenstadt­ring und machten keine Anstalten, nach Hause zu gehen. Ausgelasse­n feierten die Teilnehmer der aufgelöste­n Demo ihren Triumph über die Behörden. Sie tanzten Polonaise und sangen „Oh, wie ist das schön“, als gäbe es keine Pandemie.

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Foto: Sebastian Kahnert, dpa Tausende von Kritikern der Corona‰Hygienemaß­nahmen zogen am Samstag durch Leipzig.

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