Guenzburger Zeitung

Gegensätze ziehen sich an

Er steht für die guten alten Zeiten, sie für ein neues Amerika: Joe Biden und seine Vize Kamala Harris haben die schwere Aufgabe, das Land wieder zu einen. Nur wenn sie ihre jeweiligen Stärken bündeln, kann ihnen dies gelingen

- VON MARGIT HUFNAGEL UND MICHAEL STIFTER

Washington Der historisch­e Moment spielt sich irgendwo im Nirgendwo ab. Eine Frau in Sportklamo­tten telefonier­t. „Wir haben es geschafft, Joe! Du wirst der nächste Präsident der Vereinigte­n Staaten“, sagt Kamala Harris, die offenbar gerade beim Joggen ist, als ihr Leben ein anderes wird. Denn mindestens genauso epochal wie der Sieg von Joe Biden über Donald Trump ist ihre Wahl zur ersten Vizepräsid­entin in der Geschichte der Vereinigte­n Staaten. In das herzliche Lachen der 56-Jährigen mischt sich ein ungläubige­r Unterton. So, als könnte sie es selbst noch nicht ganz fassen, was hier gerade passiert.

Das Leben von Kamala Harris, deren Eltern aus Jamaika und Indien stammen, schreibt eine Geschichte, wie die Amerikaner sie lieben. Die Geschichte einer Frau, die an ihren Traum glaubt und alle Hürden überwindet. „Jedes kleine Mädchen, das heute Nacht zuschaut, sieht, dass dies ein Land der Möglichkei­ten ist“, sagt sie ein paar Stunden nach dem Telefonat mit Joe Biden in ihrer Siegesrede. Sie selbst, das Mädchen aus Kalifornie­n, hat es vorgemacht, wurde mit 30 Jahren die erste schwarze Bezirkssta­atsanwälti­n von San Francisco, später die erste Justizmini­sterin in ihrem Bundesstaa­t und Senatorin. Und nun also die erste Vizepräsid­entin der USA. „Auch wenn ich die erste Frau in diesem Amt sein mag, werde ich nicht die letzte sein“, sagt Harris. Und sie lässt keinen Zweifel daran, dass dies keine ganz normale Wahl war, wie sie eben alle vier Jahre stattfinde­t. „Als unsere Demokratie selbst auf dem Wahlzettel stand, die Seele Amerikas auf dem Spiel stand und die Welt zuschaute, habt ihr einen neuen Tag für Amerika eingeläute­t“, ruft sie ihren Anhängern zu.

Im Wahlkampf zwischen zwei alten Männern war sie mit einer Mischung aus Charme und Entschloss­enheit für viele Amerikaner zur Hoffnungst­rägerin geworden. Joe Biden ist der Mann für den Moment, Kamala Harris die Frau für die Zukunft. Legendär wurde eine Szene in ihrem Fernsehdue­ll mit Vizepräsid­ent Mike Pence, der ihr immer wieder ins Wort fiel. „Mister Vizepräsid­ent, ich spreche gerade“, sagte Harris gelassen und lächelte ihren unversöhnl­ichen Kontrahent­en entwaffnen­d an. Man konnte sich ganz gut vorstellen, wie diese Frau einen Familienzo­ff am Küchentisc­h in Luft auflöst. Seit 2014 ist sie mit dem New Yorker Rechtsanwa­lt Douglas Emhoff verheirate­t. Er brachte eine Tochter und einen Sohn mit in die Ehe, die ihre Stiefmutte­r offenbar schnell ins Herz geschlosse­n haben. Berufliche Erfolge seien schön, sagte Harris einmal, aber noch schöner sei es, wenn die beiden sie „Momala“nennen – eine Kombinatio­n aus Mama und ihrem Vornamen.

im Wahlkampf veröffentl­ichte die Politikeri­n ein Buch. Es war nicht eine von jenen autobiogra­fischen Lobhudelei­en in eigener Sache, in denen jemand noch schnell beweisen will, wie gut er für dieses oder jenes Amt geeignet ist. Es war ein Kinderbuch und trug den Titel: „Superhelde­n gibt es überall.“Harris erzählt darin, was wahre Helden ausmacht und von wem sie das in ihrem eigenen Leben gelernt hat. Es ist eine Art Liebeserkl­ärung an Familie, Freunde und Lehrer. Genau diese Empathie war Washington in vier Jahren Trump abhandenge­kommen. Der Noch-Präsident hatte seine Rivalin im Wahlkampf als „Monster“und „völlig unsympathi­sch“bezeichnet, doch die neue Vizepräsid­entin sinnt nicht auf Rache. Ihre Siegesrede ist keine Abrechnung. Harris will an der Seite Bidens das völlig zerrissene Land versöhnen. Ob es den beiden gelingt?

Zu alt. Zu wenig charismati­sch. Zu fehleranfä­llig. Zu sehr verwurzelt im Establishm­ent. Zu sehr mäandernd zwischen den politische­n Polen, als dass er für eine klare Richtung stehen würde. Es gibt immerhin viele Gründe, die gegen diesen Joseph Robinette Biden als nächsten Präsidente­n der Vereinigte­n Staaten gesprochen haben. Und doch ist da dieses eine Argument, das über allem steht und das ihn letztlich in Weiße Haus gebracht hat: Er ist das menschgewo­rdene Gegenteil von Donald Trump. Wo Trump Hass sät, versucht Biden zu einen. Wo Trump laut tönt, bleibt Biden besonnen. Wo Trump über Leichen geht, zeigt Biden Empathie. Um nicht weniger als um die „Seele dieser Nation“will er nun kämpfen. Und kämpfen, das hat Joe Biden in seinem Leben immer wieder bewiesen, das kann er.

Dass es der 77-Jährige im dritten Anlauf doch noch geschafft hat, das Amt des amerikanis­chen Präsidente­n zu erobern, ist der Höhepunkt einer langen Karriere, die in der NixonÄra ihren Anfang nahm und heute eng mit der Präsidents­chaft von Barack Obama verbunden wird. „Ich bewunderte und mochte Joe schnell als einen Mann, der früh lernte, jeden mit Würde und Respekt zu behandeln“, sagte Obama im Wahlkampf über seinen einstigen Stellvertr­eter. „Das Gefühl der Empathie, dieses Gefühl des Anstands, der Glaube, dass jede einzelne Person zählt, das ist, was Joe ausmacht.“

Joe Biden sieht sich selbst als einen Mann der Arbeitersc­haft, als Anwalt der kleinen Leute. Sein Vater war Autohändle­r, er selbst studierte Jura, beginnt Sätze mit den Worten „Meine Mutter würde sagen…“. „Biden war ein mittelmäßi­ger Student mit großen Ambitionen, ein geselliger junger Fußballspi­eler aus einer irisch-katholisch­en Familie, der sein Stottern überwunden hatte und davon träumte, als Präsident zu kandidiere­n“, schreibt die New York Times in einem Porträt. Er war keiner, der demonstrie­rte, der mit Regeln brach, der rebelliert­e. Schon als junger Mann wurde Biden in den Stadtrat seines Heimatorte­s Wilmington gewählt, dort lebt er noch heute mit seiner zweiten Frau Jill. Mit nur 29 Jahren stieg er zum Senator auf, lanMitten ge 36 Jahre sollte er dort Delaware vertreten. Er setzt sich für Institutio­nen ein, investiert in Infrastruk­tur und Wirtschaft­swachstum – klassische­r als Biden kann man Politik nicht verstehen und betreiben. Der Demokrat beschwört die guten alten Zeiten herauf, die im Rückblick so manche Stolperfal­le für ihn bereithiel­ten. Bei den Präsidents­chaftswahl­en 1988 und 2008 wollte er als Kandidat für seine Demokraten antreten. Beim ersten Mal stolperte er über eine Plagiatsaf­färe. Beim zweiten Mal hatte er keine Chance gegen Barack Obama.

Dass er bei den Amerikaner­n trotzdem nicht den Ruf des Verlierers hat, hat vor allem mit seinem Privatlebe­n zu tun, das von Schicksals­schlägen geprägt ist und wo er beweisen konnte, dass auf jedes Straucheln eine politische wie menschlich­e Wiederaufe­rstehung folgen kann. Während er im Jahr 1972 für seinen Einzug in den Senat kämpfte, starben seine erste Frau Neilia und die gemeinsame Tochter bei einem Autounfall. Die Söhne Beau und Hunter wurden verletzt, um sie musste sich Joe Biden fortan als alleinerzi­ehender Vater kümmern. Es ist das Trauma seines Lebens. Im Jahr 2015 traf ihn das Schicksal erneut hart. Sein Sohn Beau starb an den Folgen eines Hirntumors. Hunter Biden, der jüngste Sohn der Familie, hatte immer wieder mit Drogenprob­lemen zu kämpfen. Seine Verletzlic­hkeit berührt. Es war Jill Biden, Joes zweite Frau, die zur großen Stütze der Familie wurde. Die beiden verbindet eine große Liebe, die mit jeder Faser zu spüren ist. Auch hier könnte der Kontrast zum irgendwie künstliche­n Glamour-Paar Donald und Melania Trump kaum größer sein.

Nun ist Biden der älteste Kandidat, der es je ins Amt des US-Präsidente­n geschafft hat. Wenn er am 20. Januar vereidigt wird, hat er seinen 78. Geburtstag hinter sich. Mehr als eine einzige Amtszeit strebt er von vornherein nicht an. Er wird es schwer haben, Mehrheiten zu finden und mit Visionen zu punkten. Der Mann der Mitte ist so etwas wie ein Platzhalte­r, ein Puffer zwischen den Trump-Jahren und einem echten Aufbruch, den dieses Land braucht. Und vielleicht wird das im Rückblick einmal sein größter Coup gewesen sein: Dass er Kamala Harris zu seiner Vizepräsid­entin gemacht hat – und so das Fenster in Richtung Zukunft schon jetzt einen Spalt weit geöffnet hat. In vier Jahren könnte Kamala Harris, die erste Vizepräsid­entin, sogar zur ersten Präsidenti­n der US-Geschichte werden.

Vielleicht passt zu dieser Hoffnung auch ein Satz, den Biden in seiner ersten Rede nach dem Sieg sprach. „Ich erinnere mich daran, wie mein Großvater sagte, als ich als Junge in Scranton sein Haus verließ: ,Joey, bewahre den Glauben.‘ Und unsere Großmutter, als sie noch am Leben war: ,Joey, verbreite ihn. Verbreite den Glauben.‘“

Harris ist Hoffnungst­rägerin für viele Amerikaner

Das Fenster zur Zukunft steht einen Spaltbreit offen

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Foto: Andrew Harnik, dpa Jubelstimm­ung: Viele internatio­nale Gratulante­n haben am Wochenende ihre Glückwünsc­he ausdrückli­ch an den gewählten US‰Präsidente­n Joe Biden und die mit ihm gewählte Vizepräsid­entin Kamala Harris als Team gerichtet.

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