Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (98)
Fast ein Jahrzehnt später lernte ich Scharif kennen, der bald zu einem der führenden Emire im Kampf für den Islam wurde. Gott hat ihn mit einer besonderen Begabung ausgestattet, Menschen zu führen. Inzwischen sind wir unzertrennlich.“
„Und was weißt du nun über den Bergheiligen?“, unterbrach ihn Barudi.
„Wie ich erst spät erkannt habe, war der Scharlatan kein Revolutionär, sondern ein Krämer, ein Bauchladenhändler, der immer das verkauft hat, was sich schnell und gut verkaufen ließ. Er behauptete, Revolutionär zu sein, als es in der Dritten Welt Mode war, alles mit der Waffe zu regeln, Meister der Selbstlosigkeit, als der Diktator selbstherrlich triumphierte, Heiler, als viele erkrankt waren, und gar Heiliger, als die Gesellschaft krank wurde. Besser als ein Chamäleon ist er in der Lage, sich seiner Umgebung anzupassen, er ist ein Meister der Verwandlung. Zwar wurde er immer wieder verhaftet, aber er kam jedes Mal mit einem blauen Auge davon.
Eine Zeit lang war er revolutionärer Sufi und hatte eine riesige Zahl von Anhängern, die sich ›die Selbstlosen‹ nannten. Sie vertreten einen ursprünglichen, primitiven Sozialismus ohne Führung und ohne Partei, der auf der Überzeugung aufbaut, dass nur Verzicht die Menschheit rettet. Nur Verzicht ermöglicht Gerechtigkeit.
Kein schlechter Gedanke, muss ich sagen. Aber unser Scharlatan verließ plötzlich die Gemeinde, die ihn bis heute verehrt und nach wie vor glaubt, er sei umgebracht worden. Er aber verpuppte sich wie eine Raupe. Ein bunter Schmetterling namens ›Der Erleuchtete‹ kam zu Vorschein, dessen Lehre vor allem von der Befriedigung der animalischen Lust handelt. Ein Flickwerk aus chinesischer, indischer, altpersischer, arabischer und griechischer Lebensweisheit.
Der Körper gilt als wichtigster Teil der Seele und nicht nur als ihr Träger oder Haus. Hier gibt es Massage statt Lehre, Sex statt Gebet, Alkoholund Drogenrausch statt philosophischer Erkenntnis. Die Reinigung der Seele wird nicht mehr durch Reue oder Buße vollzogen, sondern durch feine Kleidung und luxuriöse Parfums. Auch hier hinterließ der Scharlatan, als er ging, ein Heer zerstörter Seelen.
Bei seiner dritten Wiedergeburt an einem anderen Ort war er ein Meister der inneren Werte. Die äußere Welt interessierte ihn nicht mehr. Das Paradies lag nicht mehr im Jenseits oder in einer gerechten diesseitigen Gesellschaft, sondern einzig und allein im Innern eines jeden Menschen. Eine dubiose Einstellung, die sogar vom Diktator begrüßt wurde. Der Körper war nun verpönt, war er doch Kerker für die unsterbliche Seele und ihre Wiedergeburt.
Um solche Verwandlungen zu bestehen, muss man ein Gewissen aus Teflon oder Keramik besitzen, an dem alles abperlt. Es machte dem Kerl gar nichts aus, das gestern Gesagte heute auf den Kopf zu stellen. Und jetzt begann er auch mit der Magie und der Heilung von Kranken. Bald war er so berühmt, dass er selbst im Mittelpunkt stand, nicht mehr eine Bewegung oder eine Philosophie oder irgendwelche Ideale. Für mich ist diese Stufe die raffinierteste Wiedergeburt. Er und nur er war das Zentrum des Universums. Aber er verschwand erneut und ließ seine Anhänger in ihrem inneren Paradies Qualen leiden.
Um das Jahr 2005 tauchte er hier in einem Bergdorf als Heiliger auf und wurde von nun an Bergheiliger genannt.
Bald besetzten seine Anhänger alle Ämter in den Dörfern ringsum. Er brachte es fertig, die zwei mächtigsten Clans zu versöhnen, die sich in einem jahrzehntelangen Krieg befanden, den Buri-Clan und den Ismail-Clan. Er überzeugte sie, ihre Geschäfte gemeinsam zu betreiben. So regulierte er den Handel mit Drogen, Waffen, Olivenöl und Wein, was beiden Clans Milliarden einbrachte. Sie beschützten ihn im Gegenzug und machten Propaganda für ihn.
Heilig ist er nicht, aber man muss fairerweise sagen, dass er tatsächlich eine geheimnisvolle Kraft, magisch heilende Hände besitzt.“
„Wirklich?“, vergewisserte sich Mancini.
„Ja, in der Tat. Er hat meine Cousine von einem Gehirntumor geheilt, obwohl sie Atheistin ist“, antwortete Kassim. Barudi nickte, er erinnerte sich an die Fernsehsendung.
„Aber inzwischen hat er eine andere Dimension erreicht. Er hat ein kleines Buch geschrieben. Ich habe es gelesen. Nichts stammt von ihm. Es ist eine Mischung aus den Weisheiten und Sprüchen der Philosophen, Propheten und Reformer der Welt. Man findet darin Einstein neben Buddha, Muhammad, Jesus oder Sokrates.
Auch von der Regierung bekam er Rückhalt, denn der Heuchler betont stets aufs Neue, dass der Diktator kein gewöhnlicher Herrscher sei, sondern von Gott auf diesen Posten gesetzt. Manchmal denke ich, der Mann hat recht, denn Gott hat nicht nur einen guten, sondern auch einen bitterbösen Willen. Habt ihr eure Bibel gelesen? Darin steht wie in unserem Koran auch einiges über den hasserfüllten Gott, der ganze Völker mitsamt den Kindern vernichtete, nur weil Hunderte oder meinetwegen auch Tausende gesündigt haben.“
„Das ist aber das Alte Testament.“Barudi wollte sich als Christ distanzieren.
„Hör mal, und was steht im Neuen Testament, eurem Evangelium? Hat Gott nicht seinen eigenen Sohn fallen, quälen und kreuzigen lassen? Er muss den Sohn so sehr gehasst haben, dass er den Römern erlaubt hat, ihn zu töten, obwohl er mit seinem kleinen Finger das Römische Reich in einer Sekunde in ein Sumpfgebiet und alle Römer in Ameisen hätte verwandeln können. Deshalb glauben wir Muslime, dass Gott Jesus im letzten Augenblick gerettet und lebend zu sich in den Himmel geholt hat. An seiner Stelle wurde ein ihm ähnlich sehender Mann gekreuzigt, ohne dass jemand den Unterschied merkte.“
„Sagenhaft“, sagte Mancini beeindruckt.
„Und heute“, setzte Kassim seine Rede fort, „ist der Scharlatan ein Heiliger, dem die Menschen wie eine Herde Schafe folgen. Ihr werdet euren Augen nicht trauen. Er verkauft sogar seine Fürze.“
„Jetzt übertreibst du aber“, sagte Mancini und machte eine abwinkende Handbewegung.
„Nein, überhaupt nicht. Der Bergheilige hat Probleme mit der Verdauung, täglich suchen ihn Blähungen heim. Aber, göttliche Ironie, der Heiler kann sich selbst nicht heilen. Da es in seiner Höhle, seinem Audienzzimmer, bald ekelhaft stank, haben tüchtige Ingenieure eine lautlose Maschine eingebaut, die den Geruch aus dem Raum saugt.
Ein Chemiker kam auf eine schlaue Idee. Fürze haben zwar stets eine fast ähnliche chemische Zusammensetzung, aber sie sind nie vollkommen gleich.
»99. Fortsetzung folgt