Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (99)
In die italienische Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefert. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli giösen Fanatikern und einem muslimischen Wunderheiler führt.
Jeder Furz hat seine eigene Geräuschund Geruchsnote. Mittels einer Gaschromatographie hat man für jeden Furz ein Kurvendiagramm erstellt, das die Konzentration der einzelnen Bestandteile des Furzes aufzeigt. Nach einem Monat gab es schon über fünfhundert Diagramme, und keines war identisch mit den anderen. Auf diese Weise konnte man Amulette für jeden Zweck herstellen. Wenn ein Besucher ein Schutzamulett gegen Unfälle kaufen will, bekommt er ein kleines zugenähtes Stofftäschchen von nicht mehr als zwei mal zwei Zentimetern. Der Käufer wird ermahnt, das Täschchen nie aufzumachen, weil es sonst seine Schutzkraft verliert.
Einige Neugierige aber haben das Täschchen klopfenden Herzens geöffnet und fanden darin ein gefaltetes Papier mit einer merkwürdigen Kurve. Manch einer behauptete, er konnte spüren, wie sich der Schutzengel in diesem Moment zurückzog. Manche hörten gar das Flattern seiner Flügel.“
Als Kassim seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, lachte er und zeigte auf den Schlagbaum. Er ließ Barudi anhalten und stieg aus dem Auto. „Ich warte hier bei unserem letzten Kontrollpunkt auf euch“, sagte er und winkte ihnen lange nach.
„Ein kluger Mann“, sagte Mancini.
„Ja, aber auch ein unbelehrbarer Fanatiker. Bei ihm erkennst du, dass großes Wissen den Menschen nicht besser macht. Schade.“Barudi dachte kurz nach. „Sobald Fanatismus die Seele erobert, verkommt das Wissen zur toten Information, die keinen Einfluss mehr auf die Seele hat.“
„So ist es auch mit dem Wohlstand“, ergänzte Mancini. „Sobald er eine gewisse Grenze überschreitet, macht er die Menschen dumm. Da kannst du manchen von ihnen im Fernsehen Gurken oder leidende Kinder zeigen, sie reagieren immer gleichgültig.“
Der Kontrollpunkt bestand aus einigen schweren Betonklötzen, die den Autofahrer zwangen, anzuhalten. Ein bewaffneter, vermummter Zivilist kam näher. Er trug wie die anderen drei Männer im Hintergrund eine braune Uniform. Auf seiner Brust baumelte ein großes silbernes Kreuz. „Wohin?“, fragte er ohne Gruß. „Al Salam alaikum“, erwiderte Barudi. Der Mann murmelte etwas, das sich nach Ausweis anhörte. Barudi reichte ihm seinen Dienstausweis und den Presseausweis von Mancini.
„Du bist also einer von uns, willkommen, Bruder“, sagte der Mann jetzt freundlich. „Ein Christ!“, fügte er hinzu. Barudi reagierte nicht. „Und was führt dich zu uns, Bruder?“
„Ich möchte den Bergheiligen sprechen, und der Kollege Roberto will in Rom über ihn berichten.“
„Versteht er Arabisch?“, erkundigte sich der Mann.
„Ja, sogar besser als ich. So sind die Italiener. Schon bei der Geburt sprechen sie drei, vier Sprachen“, erwiderte Barudi. Mancini lachte, und der Mann lachte auch.
„Du fährst bis zum Zentrum, schon von weitem siehst du den Kirchturm. Dort in der Kirche lebt er in seiner bescheidenen Höhle. Gute Fahrt. Ciao“, erklärte er, gab die Ausweise zurück und machte einen Schritt rückwärts. Er winkte seinen Kollegen zu, und diese öffneten die Schranke. Barudi fuhr langsam davon.
Die Kirche kam bald in Sicht, ein Schild zeigte den Weg zu einem großen Parkplatz. Von dort gingen sie die knapp fünfhundert Meter bis zur Kirche zu Fuß. Es war sonnig, aber eiskalt. Barudis und Mancinis heitere Stimmung nahm vor der Kirche ein jähes Ende. Der Platz war weiträumig abgesperrt. Über zwanzig braununiformierte Männer, alle mit dem silbernen Kreuz um den Hals, hielten eine gewaltige Masse von Gläubigen und Anhängern in Schach. Frauen kreischten, jemand schrie, seine Frau sei in Ohnmacht gefallen und der Heilige solle sie berühren. Mit Mühe erreichten Barudi und Mancini, die sich gut durchzudrängeln wussten, den Offizier an der Sperre.
Barudi musste brüllen, um sich Gehör zu verschaffen. „Ich habe einen Termin beim Heiligen. Wir müssen ein Gespräch mit ihm führen, der italienische Kollege soll in Rom über ihn berichten“, ließ er lautstark vernehmen und zeigte seinen Ausweis.
Der Offizier lachte. „Auf was die Leute alles kommen“, sagte er zu seinem Kollegen, einem stämmigen Unteroffizier.
„Dieser Idiot hat keine Ahnung, wo Italien liegt“, flüsterte Mancini Barudi zu.
„Hören Sie“, nahm Barudi einen zweiten Anlauf, „wir müssen den Heiligen sprechen, der Kollege ist extra aus Rom gekommen, verstehen Sie, Papst Benedikt, verstehen Sie. Rufen Sie Ihren Chef, es eilt.“
Ein anderer Offizier kam, musterte erst Mancini, dann dessen Presseausweis. Er überlegte kurz. „Warten Sie hier“, sagte er dann und verschwand in der Kirche. Die wartenden Gläubigen riefen, beteten, sangen und schrien in einem fort. So etwas hatte Barudi in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Tausende harrten in der Kälte aus. Sie bildeten ein buntes Meer, das die Kircheninsel von allen Seiten umgab. Die Luft über den Köpfen waberte, und die Erde schien zu beben.
„Kein Wunder“, sagte Mancini, „dass einer, der so geliebt wird, abhebt und sich wie ein Gott fühlt.“
Es dauerte eine knappe Viertelstunde, bis der Offizier von einem Mann in Weiß begleitet zurückkam. In der Zwischenzeit hatte Barudi von einem der Wartenden erfahren, dass der Bergheilige vor kurzem von einem fanatischen Anhänger mit einem Messer angegriffen worden war. „Nur durch ein Wunder hat unser Heiliger den Mordanschlag überlebt“, sagte der Mann mit Tränen in den Augen.
„Und was ist mit dem Attentäter geschehen?“, fragte Barudi, doch er konnte die Antwort nicht mehr abwarten, denn der Offizier zog ihn am Ärmel.
„Doktor Bulos Musa“, stellte er den Mann vor. „Erster Sekretär seiner Heiligkeit“, fügte er hinzu. Der Mann in Weiß lächelte sanft und gelassen.
„Leider wird der Heilige heute niemanden sprechen können. Er ist in eine göttliche Sphäre eingetreten. Das kann bis zu einer Woche dauern. Wenn er zurückkommt, hat er eine Botschaft. Aber so lange müssen Sie nicht warten. Ich kann als Erster Sekretär seiner Heiligkeit Ihre Fragen beantworten, und Fotomaterial über den Heiligen haben wir genug. Lassen Sie uns in mein Büro gehen. Dort können wir ungestört reden. Es ist nicht weit.“
Barudi folgte dem Sekretär, dem die Masse aus Respekt einen Korridor öffnete.
„Wie Moses, der das Meer teilte. Es ist kein Zufall, dass der Herr Doktor Musa, also Moses, mit Nachnamen heißt“, witzelte Mancini. Barudi lächelte.
In seinem Büro angekommen, fing der Erste Sekretär ausschweifend an zu erzählen. Sobald Barudi ihn aber nach dem Kardinal fragte, bekam er enttäuschend wenig zu hören. »100. Fortsetzung folgt