Guenzburger Zeitung

Heinsberg? Da war doch was…

Heinsberg kennt jetzt jeder. Denn die Region geriet als erster Corona-Hotspot der Bundesrepu­blik in die Schlagzeil­en. Was dabei fast vergessen wird: Hier kann man sehr gut Urlaub machen

- VON CHRISTIANE NEUBAUER

Dass Deutschlan­ds höchster Punkt auf der Zugspitze liegt, weiß jedes Kind. Aber wo liegt der nördlichst­e, der südlichste oder der östlichste Punkt der Republik? Der westlichst­e, so viel wird verraten, ist in Nordrhein-Westfalen zu finden. Im Kreis Heinsberg, um genau zu sein. Heinsberg? Da war doch was? Genau! Als erster Corona-Hotspot der Bundesrepu­blik geriet der Landkreis an der niederländ­ischen Grenze nördlich von Aachen Ende Februar in die Schlagzeil­en. Touristisc­h hat sich die Region, die die Einheimisc­hen liebevoll „Heinsberge­r Land“nennen, bis heute nicht so richtig vom Negativ-Image erholt. Schade! Denn die abwechslun­gsreichen und naturnahen Landschaft­en zwischen den Flüssen Maas, Rur und Wurm sind touristisc­h gut erschlosse­n und lassen sich wunderbar entschleun­igend mit dem Rad oder zu Fuß entdecken. Und was das Infektions­geschehen angeht: Da steht Heinsberg besser da, als manch andere Regionen.

Auch wer Superlativ­e sucht, wird – wie erwähnt – fündig: Der westlichst­e Punkt Deutschlan­ds liegt hier, an der Kreisstraß­e 1, am Rande eines Dörfchens mit dem Namen Isenbruch. „Hier geht in Deutschlan­d die Sonne unter“, stellt Hardy Schiszler augenzwink­ernd fest. Der 58-Jährige ist im Vorstand der Heinsberge­r Ortsgruppe des ADFC (Allgemeine­r Deutscher Fahrradclu­b). Vor mehr als 20 Jahren ist der gebürtige Neckarsulm­er von BadenWürtt­emberg nach Heinsberg gezogen. Der Liebe wegen, seine Frau ist von hier. Als ADFC-Tourenleit­er bietet er auch immer wieder geführte Ausflüge in der Region an – natürlich auch zum sogenannte­n „Westzipfel“. 2015 hat der Landkreis viel Geld in die Hand genommen, um den bis dahin unspektaku­lären Ort als Ausflugszi­el aufzuwerte­n und – so hoffte man jedenfalls – einen Touristenm­agneten aus ihm zu machen.

Ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall. Da der Rodebach die Grenze zwischen Deutschlan­d und den Niederland­en bildet, liegt Deutschlan­ds westlicher Punkt mitten im Wasser. Er wird über einen hölzernen Steg erreicht. Originell ist, dass das Ende des Stegs mit Holzwänden und einem Sitzbrett so gestaltet wurde, dass man im Westzipfel Platz nehmen kann. Während die Beine noch in Deutschlan­d baumeln, befindet sich der Hintern bereits in den Niederland­en. Ein Radweg zu den niederländ­ischen Nachbarn wurde ebenfalls eingericht­et. Über eine im Knotenpunk­tsystem geführten

Tour erreicht man nach nur acht Kilometern außerdem das belgische Städtchen Maaseik. Binnen kürzester Zeit drei Länder abradeln – wo geht das schon?

Das Knotenpunk­tsystem, dass sich die Heinsberge­r von ihren westlichen Nachbarn, den Belgiern und den Niederländ­ern, abgeschaut haben, findet Rad-Fex Hardy großartig. „Wegweiser entlang der Radwege leiten von Knotenpunk­t zu Knotenpunk­t“, erklärt er. „Das macht es leicht, die gewünschte

Route auch ohne GPS oder Navi zu finden.“Die unmittelba­re Nähe zu den Nachbarn mache die Menschen in der Region zu echten Europäern, schwärmt er.

Denn in der Vergangenh­eit war das friedliche Zusammenle­ben von Niederländ­ern, Belgiern und Deutschen keineswegs selbstvers­tändlich. Von den Territoria­lkämpfen zeugen bis heute einige teils gut erhaltene und sehenswert­e Burgen und Stadtbefes­tigungen, wie die mächtigen Stadttore von Gangelt oder die Burg Trips. Das herrschaft­liche Gebäude aus dem 15. Jahrhunder­t ist von einem 8,4 Hektar großen Park und imposanten Kastaniena­lleen umgeben und zählt zu den schönsten Wasserburg­en am Niederrhei­n.

Landschaft­lich geprägt wird der Kreis Heinsberg von der flachwelli­gen bis fast ebenen sogenannte­n Jülich-Zülpicher Börde. Deren fruchtbare­r Lössboden wird überwiegen­d landwirtsc­haftlich genutzt. Die meisten Radrouten verlaufen deshalb verkehrsar­m entlang von Wiesen und Feldern, auf denen Getreide, Raps oder Zuckerrübe­n angebaut werden. Aber auch Spargel und Erdbeeren gedeihen hier prima. Im Herbst kommen Kürbis, Kohl, Maronen, Wild und Gans „direkt von Feld und Wald auf den Teller“. 2019 haben sich mehr als 40 regionale Gastronome­n und Erzeuger zur Regionalma­rke „Heinsberg – das schmeckt“zusammenge­schlossen. Für Stärkung ist also unterwegs gesorgt. Aber wehe dem, der beim Radeln den Wind nicht im Rücken hat.

Dann werden selbst relativ leichte Anstiege zur Tortur – wie etwa der zur Windmühle in Breberen, einem pittoreske­n Kleinod aus dem Jahr 1842. Als langjährig­er Tourenleit­er weiß Hardy natürlich, wie man die Motivation erhöht: „Im Mühlencafé gibt es den besten Apfelkuche­n im Kreis Heinsberg“, lockt er. 19 Windmühlen gab es einst in der Region, von denen leider nur fünf erhalten sind. Mit der Selfkant-Mühlenstra­ße hat der Verein Historisch­e Mühlen im Selfkant eine 25 Kilometer lange Radtour geschaffen, der den Mühlenreic­htum der Gegend erkennen lässt. Der Verein bietet auch geführte Besichtigu­ngen an. Echte Müller zeigen dann, wie das Korn zu Mehl gemahlen wird.

Mühlenreic­h präsentier­t sich auch der Norden der Region. Allerdings sind es hier Wassermühl­en und auch dafür gibt es einen guten Grund: Die Bachläufe von Schwalm, Mühlbach und Beeckbach sorgten für ideale Bedingunge­n. Verschiede­ne Wanderund Radrouten führen heute zu mehr als einem Dutzend Mühlen, von denen die ältesten aus dem Mittelalte­r stammen und der Gegend einen ganz eigenen Charme verleihen. Mal mystisch, wenn Nebel aufzieht, mal idyllisch im Sonnenlich­t.

Neben Windkraft, Landwirtsc­haft und Tourismus ist der Abbau von Kies und Sand ein weiterer wichtiger Wirtschaft­sfaktor. Gäste und Einheimisc­he freut es, denn einige der ehemaligen Kiesgruben sind inzwischen Landschaft­sschutzgeb­iete. Der Adolphosee, der Lago Laprello und der Effelder Waldsee sind die größten und die beliebtest­en. Schwimmen darf man in den Letzteren, als Kapitän ein Manöver fahren in allen. Vogelkundl­er kommen ebenfalls auf ihre Kosten – vor allem im Frühjahr und Herbst.

Und dann gibt es auch noch das mittelalte­rlich geprägte Städtchen Wassenberg. „Es gehört zu den wenigen Städten am Niederrhei­n, die einen Berg besitzen“, witzelt der Baden-Württember­ger Hardy. Gekrönt wird dieser Berg übrigens von einer Burg. Der Bergfried dient heute als Aussichtst­urm. Von oben genießt man einen tollen Rundumblic­k auf Deutschlan­ds ersten Corona-Hotspot, das schöne Heinsberge­r Land.

Jetzt heißt es einmal tief durchatmen, ins Licht der untergehen­den Sonne blinzeln und Corona einfach mal Corona sein lassen.

Die Beine in Deutschlan­d, der Hintern in den Niederland­en

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