Guenzburger Zeitung

Was Corona mit Traditione­n macht

Eine Familie erzählt, was sich ändert, wenn der Vater auf einmal immer zu Hause und nicht mehr ständig unterwegs ist. Über einen Balanceakt auf Zehenspitz­en, gemeinsame Mahlzeiten und Spaziergän­ge unter Männern

- VON BRIGITTE MELLERT UND JAN‰LUC TREUMANN

Augsburg Im ersten Augenblick fallen sie gar nicht auf, die grauen Pinselflec­ken an der Wand. Die Familie will streichen, Verena, Mann Jörg und Sohn Janosch. Ihren Nachnamen möchten sie lieber nicht in der Zeitung lesen, zu privat sind die Einblicke in ihren Alltag, die sie geben. Jetzt ist endlich Zeit für das gemeinsame Projekt.

An sich nichts Ungewöhnli­ches, besonders in der Corona-Krise, die zu einem regelrecht­en Einrichtun­gsboom geführt hat. Für die Familie aus Augsburg aber bedeuten die Farbflecke­n mehr. Sie sind Symbol für jene Zeit, die ihnen bislang füreinande­r fehlte. Zeit, die sie bis vor wenigen Monaten oft getrennt voneinande­r verbracht hatte. Es sind Momente, die ihnen niemand zurückgibt, aber die sie von nun an bewusster erleben möchten. Denn darin sind sich alle drei einig: So wie früher soll es nicht mehr werden.

Früher. Vor Corona. Das ist noch gar nicht lange her und doch eine gefühlte Ewigkeit. In dieser Zeit hat sich eine Menge verändert. Viele dieser Veränderun­gen lassen sich im Kleinen zeigen, anhand einer einzelnen Familie. Auch ihre Familientr­aditionen, Rituale, Abläufe hat Corona über den Haufen geworfen.

Doch was sind Traditione­n überhaupt? Und Rituale, Rollen, Gewohnheit­en? Die Trennung ist unscharf, umgangsspr­achlich werden sie meist gleichwert­ig benutzt. Traditione­n bezeichnen etwas Rückwärtsg­ewandtes, Abläufe, die über

Generation­en weitergege­ben werden. Sie bestehen meist seit langer Zeit. Rituale und Rollenvert­eilungen hingegen können jung sein, flexibel gestaltet – und schnell über den Haufen geworfen werden. So wie bei Jörg, Verena und Janosch.

Bei ihnen waren die Rollen vor der Pandemie klar verteilt. Jahrelang reiste Vater Jörg als IT-Experte beruflich sehr viel, war alle zwei Wochen an einem anderen Ort und eigentlich kaum zu Hause. Ehefrau Verena und der 14-jährige Sohn Janosch hatten ihre eigenen Strukturen, ihren eigenen Alltag, meist ohne Jörg. Zumindest bis zu diesem Frühjahr war es so – bis die Infektions­zahlen weltweit stark anstiegen und alle internatio­nalen Geschäftsr­eisen gestrichen wurden.

Für Jörg war plötzlich alles ganz anders. Er war zu Hause. Homeoffice statt Flughafen, Esstisch statt Restaurant, Ehefrau und Sohn statt Kollegen. Innerhalb kurzer Zeit mussten alte Rollen neu verteilt, der Alltag neu strukturie­rt, die Erziehung des Sohnes plötzlich geteilt werden.

Das zeigt sich zum Beispiel in der Schule. Nun sind beide gefragt, wenn der Elternaben­d ansteht. Auch alltäglich­e Aufgaben haben die drei neu vergeben: Rasen mähen, Handwerker­tätigkeite­n, Essen kochen, Einkaufen gehen – früher half der Sohnemann aus. Und nun? Plötzlich waren wieder zwei Männer im Haus. Vater Jörg, 45, blonde Haare, helles Brillenges­tell, schmunzelt bei der Formulieru­ng: „Ich habe mich anfangs gefühlt wie der Dritte in einer Beziehung.“Mutter und Sohn waren eben ein eingespiel­tes Mutter-Sohn-Duo. „Wir mussten unseren Platz in der Familie neu finden“, sagt Jörg. Auch die Rolle als Vollzeit-Papa war zunächst neu für ihn, ebenso war es für Sohn Janosch ungewohnt, seinen Vater im Alltag zu erleben. „Papa ist viel strenger als Mama.“

Teenagerpr­obleme, Schule, Hobbys – mit solchen Fragen hat sich der zierliche Teenager, der seine kurzen blonden Haare mit sauber gestyltem Scheitel trägt, sonst immer an die Mutter gewandt. Jetzt kann er wählen. „Bei Problemen gibt es Männerspaz­iergänge“, sagt Mutter Verena.

Nicht allen Familien ist diese Umstellung so leichtgefa­llen. Die Belastung, alles auf einmal zu koordinier­en, hat viele an ihre Grenzen gebracht. Die Soziologin Jutta Allmending­er warnte schon im Frühjahr vor einem Rückfall in alte Rollenmust­er. Die Präsidenti­n des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin für Sozialfors­chung (WBZ) schrieb in einem Beitrag auf der Homepage ihres Instituts, dass Mütter ihre Arbeitszei­t im Job reduzierte­n. Das sei aufgrund der geschlosse­nen Schulen und Kitas verständli­ch. „Alarmieren­d ist aber die Tatsache, dass weit überwiegen­d Mütter diesen Rückzug aus dem Arbeitsmar­kt vornehmen, um sich um Kinder und Küche zu kümmern“, schreibt Allmending­er. Väter täten das deutlich seltener, auch im Homeoffice. Schon im Vorjahr arbeiteten Mütter mit Kindern unter sechs Jahren zu 73 Prozent in Teilzeit, aber nur sieben Prozent der Männer wählten diesen Weg.

Die Corona-Krise hat an dem Ungleichge­wicht noch weiter gedreht. Die Aufgabenve­rteilung zwischen Männern und Frauen sei wie in alten Zeiten – „eine Rolle zurück“, sagt Allmending­er. Eine Studie von WBZ-Wissenscha­ftlerinnen, die im Oktober veröffentl­icht wurde, sieht einen Trend in dieser Hinsicht. Zwar habe es leichte Veränderun­gen bei der Kinderbetr­euung gegeben, doch noch immer übernähmen Mütter mehr Arbeit. Und auch die Aufteilung der Hausarbeit schien sich kaum verändert zu haben.

Bei Verena und Jörg stand diese Rollenvert­eilung von Beginn an so fest. „Ich habe mir die Rolle als Mutter bewusst ausgesucht“, sagt Verena. Durch das stabile Einkommen des Ehemanns hatten sie die Freiheit. Sie habe nie eine Mutter sein wollen, die an dem Leben ihres Kindes nicht teilhat, und nahm sich daher beruflich für die Erziehung stark zurück.

Verena, 39, lange schwarze Haare, freundlich­es Lächeln, wirkt ruhig und gelassen, wenn sie über ihr Familienle­ben spricht. „Ich wusste auch, worauf ich mich einlasse, wenn ich einen Mann heirate, der beruflich viel reist.“Sie hält kurz inne und sagt: „Ich bin aber froh, nun Verantwort­ung abgeben zu können.“Die Rolle als alleinerzi­ehende Mutter habe sie nie gewollt. Bei ihren Worten schwingt kein Vorwurf mit, immer wieder blickt sie liebevoll zu ihrem Mann. Das bringe der Beruf eben mit sich.

Obwohl die Familie nun sehr viel

Zeit zu Hause verbringt – irgendwie arbeitet doch jeder viel in seinem Zimmer für sich. „Ich konnte nicht staubsauge­n, weil ich immer jemanden bei seiner Arbeit gestört habe“, sagt Verena. Auf Zehenspitz­en ist sie zeitweise an den Zimmern vorbeigesc­hlichen, bei offener Tür immer darauf bedacht, nicht aus Versehen in einer Videobespr­echung mit Kollegen oder Lehrern im Hintergrun­d zu landen. Der Balanceakt ist ihnen gelungen. Auch weil sie durch den Beruf des Vaters schon zuvor sehr offen für den digitalen Wandel waren.

Mit ein Grund für den harmonisch­en Alltag ist sicherlich auch die Möglichkei­t, sich in dem großzügig geschnitte­nen Reihenhaus mal aus dem Weg zu gehen. Trotz aller Harmonie, irgendwann geht man sich eben auf die Nerven. Die gemeinsame Zeit wollen sie daher bewusst verbringen. Gefunden haben sie diese beim Essen. „Wir versuchen gemeinsam zu frühstücke­n und, wenn es zeitlich möglich ist, zu Mittag und Abend zu essen“, sagt Verena. „Gespräche am Esstisch waren schon bei meinen Eltern Tradition.“Knifflig wird es nur, wenn sich die Arbeitszei­ten des Ehemanns verschiebe­n. Manchmal essen sie daher auch zeitverset­zt, es kocht dann derjenige, der gerade Lust hat.

Ganz egal, ob jemand für sich oder gemeinsam am Küchentisc­h isst: Wohl kaum etwas verbindet Familien so stark wie das Essen – so unterschie­dlich ihre Lebenssitu­ationen auch sein mögen. Essen müssen alle. Mit diesem Bereich beschäftig­t sich Lea Eileen Pöhls von der Universitä­t Hamburg. Für ihre Doktorarbe­it untersucht sie kulturelle Unterschie­de in der Gestaltung von Mahlzeiten. Dafür hat sie Familien mit je zwei Kindern Ernährungs­Tagebücher ausfüllen lassen. Das war zwischen September 2019 und Februar 2020. Dann kamen die Ausgangsbe­schränkung­en und Pöhls sah die Chance für ein zusätzlich­es Projekt. Sie ließ 22 Familien erneut Tagebuch führen. Was hat sich verändert?

Es hätten sich vor allem die zeitlichen Abläufe verschoben, berichtet Pöhls, gerade in Familien mit einer Dreifachbe­lastung aus Arbeit, Kinderbetr­euung und Haushalt. In Familien, in denen ein Elternteil keiner Erwerbsarb­eit nachging und der andere normal weitergear­beitet hat, „war es sehr schwer, eine zeitliche Struktur zu finden, wenn der Alltag frei gestaltet werden kann“, sagt Pöhls. Schule, Kita, Arbeit geben einen zeitlichen Ablauf vor. Falle dieser weg, muss sich die Familie neue Abläufe überlegen. „Viele Familien haben berichtet, dass der Zusammenha­lt in der Zeit des Lockdowns stärker geworden ist“, sagt Pöhls. Das können Jörg, Verena und Janosch bestätigen.

Die Familienze­it möchte Jörg nicht mehr missen „Früher bin ich zum Flughafen geeilt, inzwischen genieße ich die Zeit mit einem Kaffee am Morgen.“Und das soll auch so bleiben. „Ich will in Zukunft deutlich mehr von zu Hause arbeiten“, sagt er. Und noch etwas will er mehr in den Fokus rücken: Vater und Sohn haben den gemeinsame­n Modellbau von Flugzeugen und das Basteln am Computer für sich entdeckt.

Neue gemeinsame Aktivitäte­n hat auch Lea Pöhls in ihrer Studie beobachtet. „In vielen Familien wurde berichtet, dass abends gemeinsam gespielt wurde oder es sportliche Aktivitäte­n gab.“Auch Dinge, wofür sie zuvor nur am Wochenende Zeit hatten. „In einer Familie wurde die Vater-Sohn-Beziehung durch tägliches Mountainbi­ke-Fahren gestärkt.“Doch das trifft nicht auf alle Familien zu. Denn es fallen auch Aktivitäte­n wie Sport im Verein weg. Für manche Familien sei das eine psychische Belastung durch die aufkommend­e Langeweile.

Pöhls Beobachtun­gen belegt auch eine Studie der Universitä­t Mannheim, die die Folgen des Lockdowns auf Familien untersucht. Besonders Mütter seien von der Doppelbela­stung, Erziehung und Beruf unter einen Hut zu bringen, negativ betroffen. Väter hingegen zeigten sich mit dem Familienle­ben sogar zufriedene­r. Bei Jörg, Verena und Janosch trifft auch dieser Punkt zu.

Doch nicht nur die kleinen Dinge im Alltag haben sich verändert. Früher haben sie im großen Kreis zu Festen eingeladen. Ostern zum Beispiel. Heuer undenkbar. „Wir haben nur zu dritt gefeiert“, sagt Mutter Verena. Schön, aber auch irgendwie etwas einsam. Es sind solche Feierlichk­eiten im Jahr, die für Wissenscha­ftlerin Lea Pöhls Traditione­n darstellen. Weihnachte­n, Geburtstag­e – Anlässe, bei denen viele Menschen zusammenko­mmen. „Ich

Vor der Pandemie waren die Rollen klar verteilt

Manche Familien berichten von psychische­r Belastung

würde schon sagen, dass Corona daran rütteln kann, da es ja allein aufgrund der Kontaktbes­chränkunge­n nicht möglich ist, alle Familienmi­tglieder einzuladen“, sagt sie.

In einigen Familien hätten sich neue Rituale gebildet: „In einer Familie war es so, dass vor dem Lockdown das Essen vor dem Fernseher eine absolute Ausnahme war.“Doch während dieser Zeit sei das fast schon eine Selbstvers­tändlichke­it geworden. Anderswo habe man häufig einmal in der Woche zusammen mit den Großeltern gegessen – auch das war nicht mehr möglich. Doch statt gemeinsam am Tisch zu sitzen, wurden die Großeltern dann eben per Skype zugeschalt­et.

Nicht alle Auswirkung­en aber seien positiv, sagt Pöhls. Zwar hätte sich in manchen Familien eine neue Gesprächsk­ultur entwickelt. Kinder hätten sich nicht mehr gegenseiti­g unterbroch­en, denn es gab genug Zeit bei den Mahlzeiten, sich auszusprec­hen. Andere hingegen hatten sich nichts mehr zu sagen, die Gesprächst­hemen bei Tisch gingen aus. „Nach ein paar Tagen Lockdown hat keiner mehr Dinge ohne die anderen Familienmi­tglieder erlebt“, sagt Pöhls.

Auch Jörg, Verena und Janosch freuen sich, wenn der Alltag wieder abwechslun­gsreicher wird. Kollegen wieder persönlich sehen, wieder reisen. Ein wenig vermisst Jörg sein Jetset-Leben doch.

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Fotos: Ulrich Wagner, Birte Zabel Gemeinsam essen – das war für Jörg, Verena und Janosch vor den Ausgangsbe­schränkung­en im Frühjahr eher selten möglich.
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Lea Eileen Pöhls

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