Guenzburger Zeitung

Tracht und Macht

Tradition und Heimat wecken bei vielen Menschen Emotionen – ein wirkungsvo­lles Instrument für Politiker. In Bayern wusste das lange niemand so für sich zu nutzen wie die CSU. Warum das heute anders ist

- VON MAX KRAMER

Manfred Weber, Fraktionsc­hef der Europäisch­en Volksparte­i im EU‰ Parlament zur Drohung Ungarns und Polens, den Haushalt zu blockieren

München Jahre, ja Jahrzehnte hatte die Rechnung der CSU im Freistaat funktionie­rt: Bayern gleich Tradition gleich Kirche. Gleich Wählerstim­men gleich Wahlsieg-Garantie. Doch dann kam der April 2018 und mit ihm der Tag, an dem Markus Söder ans Kreuz griff. Der Erlass, nach dem in sämtlichen bayerische­n Dienstgebä­uden ein Kreuz aufgehängt werden sollte, habe zum Ziel, die „christlich-abendländi­sche Tradition Bayerns“zu betonen, sagte Söder, damals frisch inthronisi­erter Ministerpr­äsident. Doch nicht breite Zustimmung aus dem konservati­ven Lager folgte dieser Inszenieru­ng, sondern massiver Widerstand – und eine Lektion. „Damals hat die CSU gelernt: Die alten Instrument­e im Umgang mit Tradition und Heimat funktionie­ren nicht mehr“, sagt Michael Weigl, Politikwis­senschaftl­er an der Uni Passau. Ein halbes Jahr nach dem Kreuzerlas­s verlor die CSU in Bayern die absolute Mehrheit.

Traditione­n, meist religiösen Ursprungs, sind wichtiger Bestandtei­l im Leben von Millionen von Menschen. Sie strukturie­ren den Jahresabla­uf, prägen die Lebensreal­ität mit – und sind dadurch wirkungsvo­lle Anknüpfung­spunkte für Politiker. Politikwis­senschaftl­er Weigl: „Traditione­n werden als Instrument genutzt, um Menschen zu mobilisier­en, Identifika­tion mit Partei und Politik zu schaffen und damit Legitimati­on eigene Maßnahmen herzustell­en. Wer Tradition pflegt, suggeriert Volksnähe.“Dies wusste in Bayern über Jahrzehnte niemand so für sich zu nutzen wie die CSU. Doch die anderen Parteien haben nachgezoge­n. Sie deuten „Tradition“und „Heimat“immer stärker für sich aus und treten entspreche­nd auf.

Und das, laut Weigl, ohne Glaubwürdi­gkeit zu verlieren. Denn: „Die Begriffe haben sich durch Globalisie­rung und Digitalisi­erung geöffnet, flexibilis­iert, modernisie­rt. Früher waren diese Themen vor allem konservati­v und ökonomisch konnotiert. Das gilt heute nur noch bedingt.“Mit Themen wie Umweltschu­tz könnten heute auch Grüne oder SPD für Heimat und Traditions­pflege stehen. Dabei steht die Politik nach Ansicht von Weigl vor einer paradoxen Situation. „Heimat und Tradition sind für viele grundlegen­de emotionale Werte, um sich in einer hochglobal­en Welt zu verorten. Anderersei­ts folgt aus dieser regionalen Grundierun­g nicht mehr unbedingt, dass sich diese Menschen auch eine regionenbe­zogene Politik wünschen“, sagt Weigl. „Das Argument ,Wählt mich, weil ich etwas für eure Heimat tue’ greift heute nicht mehr gleich.“

Auch Theo Waigel, CSU-Ehrenvorsi­tzender und ehemaliger Bundesfina­nzminister, hat einen Paradigmen­wechsel festgestel­lt. „Tradition und Heimat sind nach wie vor unverzicht­bare Größen in der Politik“, sagt er im Gespräch mit unserer

Redaktion. „Aber die Sensibilit­ät im Umgang damit ist gewachsen. Es reicht als Politiker nicht mehr, nur Tracht zu tragen. Es braucht auch ein Bewusstsei­n, welche Werte mit Tradition verbunden sind: Heimat, Gemeinscha­ft, Religion, Engagement in Staat und Gesellscha­ft, auch Dialekt und Musik.“Dass sich neben der CSU auch andere Parteien immer stärker dem Thema widmeten, begrüße er. „Das muss Ansporn sein, Tradition mit Leben zu füllen und weiterzuen­twickeln. Tradition und Moderne müssen in Bayern Hand in Hand gehen.“In Bayern sei ein intefür grativer Traditions­begriff entwickelt worden, der auf die Zukunft ausgericht­et sei und mit einem Gestaltung­sanspruch einhergehe.

Diesem Credo folgend, schrieb sich die CSU in der Ära von Ministerpr­äsident Goppel (1962 bis 1978) den Slogan „Tradition und Fortschrit­t“auf die Fahnen, in den 1990er Jahren ersetzt durch „Laptop und Lederhose“. Diese Devise war in erster Linie Marketing. Doch sie stand auch für den enorm beschleuni­gten Wandel, den die Bayern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts erlebt hatten. Dabei zeigt der Slogan auch Konfliktli­nien auf, die in Bayern zwischen Tradition und Moderne verlaufen. So wurden Traditione­n oft klischeeha­ft verengt, gerade ober- und altbayeris­che Traditione­n wurden zu gesamtbaye­rischen stilisiert. Ein Beispiel: die Lederhose, ursprüngli­ch meist als traditione­lloberbaye­risches Kleidungss­tück wahrgenomm­en, gilt heute als Allgemeing­ut. „Anstatt die kulturelle Vielfalt in Bayern abzubilden, wird bis heute sehr viel stärker ein Klischee-Bayern inszeniert – auch vonseiten der Staatsregi­erung“, sagt Politikwis­senschaftl­er Weigl.

Einer, der die Konsequenz­en dieser Entwicklun­g von Berufs wegen unmittelba­r erlebt, ist Hans Well. Er war 35 Jahre lang Kopf der bayerische­n Musik- und Kabarettgr­uppe „Biermösl Blosn“, ist nun mit seinen Kindern unter dem Namen „Wellbappn“unterwegs – und stellt immer häufiger fest: „Die Leute kennen viele Lied- und Musikforme­n nicht mehr, die noch vor gar nicht so langer Zeit selbstvers­tändlich waren. Da geht einiges an Tradition, an kulturelle­m Reichtum und Vielfalt verloren.“Es gebe zwar Unterschie­de zwischen Stadt und Land, insgesamt mache sich aber „kulturelle Einfalt“und eine „Eventisier­ung“der Traditione­n breit: „Schauen Sie auf das Oktoberfes­t. Da ist die Lederhose ein Utensil wie an Fasching.“

Gleichzeit­ig stellt Well, der sich in seinen Texten bevorzugt an der CSU abarbeitet, fest, dass die eigentlich positiv besetzten Begriffe „Heimat“und „Tradition“auch missbrauch­t würden – zur „kommerziel­len Verramschu­ng“, aber auch politisch. Well verweist auf Konservati­ve und Rechte wie die rechtsextr­eme „Identitäre Bewegung“. „Wenn ich sehe, wie die mit ,Tradition‘ und ,Heimat‘ werben, wird’s mir schlecht.“Dass Tradition politisch missbrauch­t werden kann, konstatier­t auch Politikwis­senschaftl­er Weigl. „Dieses Potenzial ist da. Die Nationalso­zialisten etwa haben es in erschrecke­nder Weise vorgemacht, wie der Heimatbegr­iff für eine Abgrenzung gegenüber konstruier­ten Feindbilde­rn missbrauch­t werden kann.“Im demokratis­chen Bayern seit 1946 aber sei es immer mehr um Selbstverg­ewisserung denn um Ausgrenzun­g gegangen. Erst in jüngster Zeit seien wieder vermehrt aggressive­re Töne von Rechtspopu­listen zu hören.

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Foto: Angelika Warmuth, dpa In Krawatte, aber umringt von den Seinen: Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) gibt sich gerne volksnah und traditions­bewusst.

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