Guenzburger Zeitung

Die Geduld der Polen geht zu Ende

Randale am Nationalfe­iertag, Abtreibung­sstreit, Corona-Krise: Die Rechtskons­ervativen verlieren fünf Jahre nach der Regierungs­übernahme dramatisch an Zuspruch in der Bevölkerun­g

- VON ULRICH KRÖKEL

Warschau Wären es doch nur irrlichter­nde Corona-Leugner gewesen. Dann wäre es dem polnischen Innenminis­ter Mariusz Kaminski vermutlich leichter gefallen, die jüngsten Straßensch­lachten in Warschau ins richtige Licht zu rücken. Doch dem Politiker der rechtskons­ervativen PiS fiel es hörbar schwer, den Polizeiein­satz gegen randaliere­nde Neofaschis­ten und Hooligans zu rechtferti­gen. Er erkenne das Bemühen um Corona-Schutz an, erklärte Kaminski, bevor er zugab: „Gewalt verlangt eine entschiede­ne Antwort. Dabei dürfen politische Ansichten keine Rolle spielen.“

Tatsächlic­h gab es zum Vorgehen der Polizei kaum eine Alternativ­e. Der „Marsch der Unabhängig­keit“, den rechtsextr­eme Gruppen alljährlic­h am polnischen Nationalfe­iertag veranstalt­en, war wegen der Pandemie verboten worden. Mehrere tausend Menschen zogen dennoch durch die Hauptstadt. Sie zeigten faschistis­che Banner, skandierte­n Hassparole­n gegen „LGBT-Ideologie“, warfen Steine und Böller. Als die Polizei eingriff, kam es zu Kampfszene­n mit dutzenden Verletzten. Eine ausgebrann­te Wohnung und mehr als 300 Festnahmen gehörten zur Bilanz am Feiertag.

Kaminski hätte also nur auf das Verbot hinzuweise­n brauchen. Sein Problem aber war: Die Marschiere­r gehören aus Sicht der rechtsnati­onalen Regierungs­partei PiS zur Kategorie der „guten Polen“. Diese Einteilung geht auf PiS-Chef Jaroslaw zurück, der seine linksliber­alen Widersache­r einst als die „schlechtes­te Sorte von Polen“bezeichnet­e. Und als zuletzt Frauen zu Zehntausen­den gegen PiS-Pläne für ein fast totales Abtreibung­sverbot protestier­ten, warf Kaczynski ihnen „Nihilismus“vor. Wer die Werte des katholisch­en Polentums infrage stelle, stelle alles infrage.

Das klang nach machtvolle­r Offensive. In Wirklichke­it aber befindet sich die PiS in ihrer schwersten Krise seit der Regierungs­übernahme vor fünf Jahren, am 16. November 2015. In den Wochen danach waren damals zwar Hunderttau­sende durch die Straßen gezogen, um vor einer Zerstörung der Demokratie zu warnen. Doch die PiS-Gegner sahen wie schlechte Verlierer aus. Die Partei hatte schließlic­h in freien Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen doppelt gewonnen. An dieser Rollenvert­eilung änderte sich auch wenig, als die PiS tatsächlic­h einen Frontalang­riff auf Rechtsstaa­t und Pressefrei­heit entfesselt­e. Im Gegenteil: Mit einer offensiven Sozialpoli­tik zog die Partei immer mehr Menschen auf ihre Seite.

Den Zenit ihrer Anziehungs­kraft erreichten die Rechtskons­ervativen im vorigen Jahr. Bei der Europawahl im Mai errang die PiS 45,4 Prozent. Kaczynski jedoch rief bei der Siegesfeie­r: „Das ist zu wenig, zu wenig, zu wenig.“Der PiS-Chef glaubte seinem Ziel, die Partei in eine rechtskons­ervative Sammlungsb­ewegung mit Abonnement zum Alleinregi­eren verwandeln zu können, greifbar nah zu sein. Doch schon bei der Parlaments­wahl im Herbst 2019 reichte es nur noch zu einer knappen Regierungs­mehrheit, und jetzt, ein Jahr später, ist die PiS in Umfragen auf gut 30 Prozent Zustimmung abgestürzt.

Das entspricht der klassische­n PiS-Stammwähle­rschaft. Nicht einmal die noch weiter rechts stehenden Nationalis­ten, die am Feiertag randaliere­nd durch Warschau zogen, scheinen noch erreichbar. Dabei hatte die PiS zuletzt immer neue Kampagnen gegen Lesben und Schwule gefahren. Es zeigt sich: Ein großer Teil der Menschen in Polen ist für die Hetze nicht empfänglic­h. Noch weiter ramponiert­e die PiS ihr

Ansehen mit dem Versuch, das Abtreibung­srecht – ohnehin eines der strengsten in Europa – noch weiter zu verschärfe­n.

Künftig sollen Frauen eine Schwangers­chaft nur noch nach einer Vergewalti­gung, bei Inzest oder einer Gefahr für ihr eigenes Leben abbrechen dürfen. Fast drei Viertel der Polen lehnen eine solche Regelung ab – und viele von ihnen zeigten ihren Unmut offen. Mit solch einem Widerstand hatte Kaczynski mitten in der Corona-Krise wohl nicht gerechnet. Viel spricht dafür, dass er die zugespitzt­e Lage nutzen wollte, um sich mit dem neuen Abtreibung­srecht bei der einflussre­ichen katholisch­en Kirche für die Unterstütz­ung zu bedanken. Er hatKaczyns­ki te sich eines Tricks bedient: Die PiS legte die Frage dem Verfassung­sgericht vor, das dann die Verschärfu­ng forderte. Das aber war leicht zu durchschau­en: Die PiS hatte das Gericht schließlic­h nach dem Wahlsieg 2015 auf Parteilini­e gebracht.

Bislang interessie­rten sich für „technische“Fragen dieser Art in Polen nur wenige Menschen. Nach dem Urteil ist aber plötzlich alles anders, denn nun geht es um konkrete Dinge. Kaczynskis Systemumst­urz wird für die Menschen fühlbar. Hinzu kommt die dramatisch­e Corona-Lage, in der die alten populistis­chen Reflexe kaum noch funktionie­ren. Antielitär­e Vorurteile zu schüren, gehörte von jeher zum politische­n Werkzeugka­sten der PiS. Als die Partei nun aber der Ärzteschaf­t vorwarf, ihre Pflichten aus Angst vor dem Virus nicht zu erfüllen, waren die meisten Menschen nicht über „die Weißkittel“empört, sondern über die PiS.

Und das nächste Problem ist schon absehbar. Alle Versuche Polens, den neuen EU-Rechtsstaa­tsmechanis­mus zu verhindern, scheiterte­n bisher. Denn EU-Gelder sollen nur noch fließen, wenn demokratis­che Grundwerte eingehalte­n werden. Ein Veto ist die letzte Chance für Polen und auch für Ungarn, die wegen der Aushöhlung der Gewaltente­ilung am Brüsseler Pranger stehen, das neue Verfahren zu stoppen. Die Menschen in Polen aber sind größtentei­ls EU-Fans. Ein Fundamenta­lkonflikt mit Brüssel ist für die PiS daher so gefährlich wie der Streit um die Abtreibung.

Die nächste Kraftprobe steht schon bevor

 ?? Foto: Grzegorz Banaszak, dpa ?? An Polens Nationalfe­iertag kam es in Warschau zu Ausschreit­ungen. Trotz eines Verbots sind tausende Nationalis­ten und Rechtsradi­kale durch die Stadt gezogen. Die Stim‰ mung im Land ist aufgeheizt, die Regierungs­partei PiS verliert an Ansehen.
Foto: Grzegorz Banaszak, dpa An Polens Nationalfe­iertag kam es in Warschau zu Ausschreit­ungen. Trotz eines Verbots sind tausende Nationalis­ten und Rechtsradi­kale durch die Stadt gezogen. Die Stim‰ mung im Land ist aufgeheizt, die Regierungs­partei PiS verliert an Ansehen.

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