Guenzburger Zeitung

Eine Tradition, die lange verschütte­t war

Die Textilindu­strie hat Augsburg über viele Jahrzehnte geprägt. Heute sind die meisten Zeugen dieser Epoche verschwund­en. Warum die Stadt so lange gebraucht hat, um mit diesem bedeutende­n Erbe warm zu werden

- VON CHRISTOF PAULUS

Augsburg Glaspalast, Fabrikschl­oss – es sind selbstbewu­sste Namen, die für eine beeindruck­ende Geschichte stehen. Heute zählen die Bauten zu den letzten Zeugen einer untergegan­genen Epoche, die erst langsam wiederentd­eckt wird. In Augsburg schlug über Jahrzehnte das Herz der Textilprod­uktion in Deutschlan­d. Zu Hochzeiten arbeiteten bis zu 20000 Menschen in rund zwei Dutzend Großbetrie­ben, die internatio­nal agierten – zahlreiche kleine Firmen kamen noch hinzu. Das entsprach fast einem Zehntel der Bevölkerun­g. Augsburg wurde mit der Textilmetr­opole Manchester verglichen. Der Stadtteil, in dem diese Industrie konzentrie­rt war, heißt seither Textilvier­tel. Nach Jahrzehnte­n eines schleichen­den Niedergang­s schloss 2002 mit der Kammgarn-Spinnerei die letzte der großen Fabriken für immer ihre Tore. Die Reste dieser einst für die ganze Stadt identitäts­stiftenden Industrie verschwand­en nach und nach aus dem Stadtbild. Heute ist von der Textilbran­che in Augsburg fast nichts mehr da, bloß wenige kleine Produktion­sstätten sind geblieben – und der Name des Viertels. Seit 2010 gibt es dort ein staatliche­s Textilmuse­um. Die Stadt war seit jeher stolz auf ihre Geschichte, die Römerzeit, den Prunk der Fugger – doch erst seit wenigen Jahren auch auf die Textilindu­strie.

Einer, der diese noch selbst miterlebt hat, ist Christian Dierig. Fast alle Unternehme­n aus dem 20. Jahrhunder­t, die mit Stoffen ihr Geld verdient haben, sind verschwund­en – Dierig gibt es noch. Im Stadtteil Pfersee vertreibt das Unternehme­n nach wie vor Bettwäsche, nur produziert wird hier schon lange nicht mehr. „Die Augsburger sind mit der Textilindu­strie lange nicht richtig warm geworden“, sagt Dierig. Sein Vater war in der Textilbran­che einst einer der größten Unternehme­r des Landes. Doch die Stadt habe sich stets mehr für die Metallindu­strie interessie­rt, erzählt der 63-Jährige. „Auch wenn dort weniger Menschen beschäftig­t waren, gab es mehr Geld zu verdienen.“

Dabei hat Augsburg auch der Textilindu­strie zu verdanken, dass es 2019 Teil des Weltkultur­erbes wurde. Den Titel trägt das Wassersyst­em, die Kanäle und Kraftwerke prägen das Bild der Stadt. Die Textilindu­strie hat viele von ihnen genutzt, manche angelegt oder ertüchtigt. Andere Bauwerke wurden nach der Pleitewell­e der Textilindu­strie in den Achtzigern und Neunzigern dem Verfall preisgegeb­en. Nicht alle haben später wieder die Substanz erlangt, wie ihn etwa der Glaspalast heute hat – oder das Dierig-Areal.

Wer sich hier umschaut, erkennt sofort, dass die Backsteinb­auten mit

für Industrie und Arbeiter gebaut wurden. Die lukrativen Jahre der Augsburger Textilindu­strie in den Sechzigern waren Christian Dierigs Kindheit. Heute ist er Sprecher des Unternehme­nsvorstand­es, 1997 endete die Produktion in Pfersee. In den alten Fabriken sind heute Werkstätte­n oder Büros, Dierig ist nicht mehr nur Textil-, sondern auch Immobilien­konzern. Das Grau des Asphalts und das Rot der Wände prägen das Firmenarea­l, grün ist hier wenig. Die Arbeiter sind längst verschwund­en. Doch erst langsam besinnt sich Augsburg wieder auf seine Identität als Textilstad­t. Als eine Firma nach der anderen zugrunde ging, begannen die Fabriken zu verfallen. Viele von ihnen wurden abgerissen: Dort, wo heute das Einkaufsze­ntrum City-Galerie steht, war früher etwa die Neue Augsburger Kattunfabr­ik. Und der Niedergang der Branche verwundete nicht nur das Stadtbild.

„Als die Arbeiter ihren Job verloren, fühlten sie sich wie Verlierer“, sagt Dierig. Erst Jahrzehnte später begriffen sie sich als das, was sie aus Dierigs Sicht tatsächlic­h waren: „Ein tolles Völkchen, das tapfer gekämpft hat bis zum Ende.“Dass es die Firma Dierig heute noch gibt, liegt auch daran, wie dieses Ende gestaltet wurde: Früh habe man die Produktion herunterge­fahren, die Maschinen verkauft, bevor der Markt dafür gesättigt war. Als damals aus vielen Mitarbeite­rn Arbeitslos­e wurden, habe das Unternehme­n versucht, „eine anständige und soziale Lösung zu finden“, sagt Dierig. Dennoch war das Ende der Produktion „die größte Katastroph­e“, wie eine ehemalige Mitarbeite­rin es in einem Zeitzeugen­interview des Textilmuse­ums sagt. „Mit den Entlassung­en ist unser Leben, unser Arbeitspla­tz einfach weggeklapp­t.“Dafür habe sie Dierig persönlich die Schuld gegeben.

Adalbert Kraus hat bis zum Stopp der Produktion in der Firma gearbeitet. Der 84-jährige Augsburger war von 1953 an im Konzern, arbeitete als Weber, lernte dort seine Frau kennen. „In jeder Familie gab es mindestens einen, der in der TexMetalld­ächern tilindustr­ie war“, erinnert er sich im persönlich­en Gespräch. Bis zum Beginn der Corona-Pandemie habe er sich noch mit früheren Kollegen zum Kegeln getroffen, auf der Arbeit viele Freunde gefunden. Doch in einer starken Gewerkscha­ft, wie etwa die Kohle- und Stahlarbei­ter an Ruhr und Saar, waren die Weber nicht organisier­t. Wie Museumsdir­ektor Karl Murr sagt, hätten die Arbeiter in erster Linie innerhalb ihres Betriebes zusammenge­halten. Außerhalb der Branche konnten Weber mit ihrem Beruf lange nur wenige beeindruck­en.

„Im Sommer hatte es über 40 Grad Celsius in der Fabrik, die Luft stand, es war laut und wir haben rund um die Uhr im Schichtbet­rieb gearbeitet“, erzählt Arbeiter Kraus. „,Hättest du mal etwas Anständige­s gelernt‘ haben die Leute dazu nur gesagt.“Kraus ist dennoch stolz auf seinen Beruf, in einem Ordner sammelt er Zeitungsar­tikel und Zeichnunge­n von Stoffen, Produzente­n und Arbeitern. „Es ist schade, dass nichts mehr da ist“, sagt er.

Viele Augsburger blickten heute wehmütig auf die Industrie zurück, schildert Historiker Murr. „Die Nostalgie tritt ein, wenn Dinge verschwund­en sind.“Für viele in der Stadt war die Textilindu­strie lange Arbeitspla­tz, bei Dierig oder woanders. Nach dem Produktion­sstopp im Glaspalast war lange unklar, was mit dem Gebäude passiert. Es hätte verfallen und zum Schandflec­k werden können, das Ende der Textilindu­strie gar zum „Trauma“für die Stadt, sagt Murr. Stattdesse­n zählt der renovierte Glaspalast heute zu den markantest­en Gebäuden der Stadt – und den Denkmälern für Augsburgs Textiltrad­ition.

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1960 rauchten die Schlote noch. Dort, wo damals die Kammgarn‰Spinnerei stand, ist heute das Textilmuse­um untergebra­cht. Die Fabrik im Hintergrun­d ist verschwund­en, hier steht nun die City‰Galerie.
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Fotos: Staatliche­s Textil‰ und Industriem­useum Arbeiter der Kammgarn‰Spinnerei.

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