Guenzburger Zeitung

So what?

Nichts als Probleme für den britischen Premiermin­ister Boris Johnson: Corona-Chaos, Brexit-Blamage, seine Partei gespalten. Jetzt läuft ihm auch noch sein wichtigste­r Berater davon. Das alles kommt nicht von ungefähr. Doch seine Anhänger schert das nicht

- VON KATRIN PRIBYL

London Auf Boris Johnsons Schreibtis­ch in der Downing Street steht, so ist überliefer­t, eine Büste von Perikles, dem griechisch­en Staatsmann aus dem antiken Athen. Und weil die Sache mit dem britischen Premiermin­ister kaum noch mit der Gegenwart zu erklären ist, lohnt sich ein Blick in die Vergangenh­eit.

Perikles war ein Meister der Redekunst, er förderte demokratis­che Strukturen, Kunst und Kultur. Mit seiner Herrschaft ab 443 v. Chr. verbindet sich das Goldene Zeitalter Athens. Perikles ist für Johnson „der wahre Held“und „Inspiratio­n“, wie man von Insidern hört. In einer neuen Biografie mit dem schönen Namen „The Gambler“(„Der Spieler“) werden ganz unbescheid­en Vergleiche zwischen Perikles und dem konservati­ven Regierungs­chef gezogen in Sachen rhetorisch­es Geschick, Persönlich­keit, Talent, politische­r Erfolg, Charakter.

Johnson selbst dürfte sein Vorbild im Sinn gehabt haben, als er, beflügelt von einem triumphale­n Sieg bei der Parlaments­wahl, Anfang Januar per Twitter versprach: „Dies wird ein fantastisc­hes Jahr für Großbritan­nien.“Auf in eine „goldene Ära“, befreit von den Fesseln der EU. Global Britain, was sonst.

Nur, die Vergangenh­eit ist bekanntlic­h eine andere Welt.

Gerade eskalierte innerhalb Johnsons Team ein Machtkampf um den umstritten­en Berater Dominic Cummings, der nicht nur wie kein Zweiter für Johnsons Aufstieg ins höchste Amt verantwort­lich zeichnet, sondern auch als Architekt des Erfolgs beim Brexit-Referendum gilt. Die Medien berichten seit Tagen in unschönen Details, wie die Fehde lief in Londons Regierungs­zentrale. Wer mit wem wie über was gestritten hat, wie unerbittli­ch und skrupellos die rivalisier­enden Fraktionen miteinande­r rangen, wie hinterrück­s jeder billige Trick zum Einsatz kam, um bedeutende Posten innerhalb des Apparats im eigenen Sinne zu besetzen. Zwischen den Stühlen saß der Premiermin­ister.

Die Öffentlich­keit verfolgte die Seifenoper staunend. Das Wörtchen „armselig“tauchte denn auch häufiger in den Beschreibu­ngen von Be

auf, genauso wie Johnsons Verlobte Carrie Symonds, die in dem Theater die Rebellion gegen die Cummings-Truppe anführte. Sie war einst Kommunikat­ionschefin der Konservati­ven. Am Ende setzte sich ihre Seite durch.

Strippenzi­eher Cummings, der aus seiner Verachtung für britische Institutio­nen und selbst Teile der Torys nie einen Hehl gemacht hat, wählte den großen Auftritt und spazierte demonstrat­iv mit Umzugskart­on unter dem Arm aus der berühmten Tür mit der Nummer zehn. Bumm!

Es war Cummings’ Mittelfing­er in Richtung jener Torys, die Johnsons geistigen Schattenma­nn wegen seines „konfrontat­iven und autoritäre­n“Stils seit langem verabscheu­en. Cummings wollte nichts weniger als das Land radikal transformi­eren, jedes Mittel schien ihm recht, ob das Parlament dafür in die Zwangspaus­e geschickt werden muss wie im vergangene­n Jahr oder ob man wie jüngst Brüssel droht, internatio­nales Recht zu brechen. Er gefiel sich in der Rolle des Systemzers­törers. Ein Problem für den als unschlüssi­g und ideenarm geltenden Boris Johnson. Denn Cummings war auch sein Chef-Einflüster­er. Nun versinkt die Regierung im Chaos. Und das mitten in der zweiten Corona-Welle und kurz vor dem Brexit-Finale.

Eine kurze Übersicht zur Lage der Nation: Die Pandemie forderte nach offizielle­n Angaben bislang mehr als 52000 Tote, das Königreich verzeichne­t damit eine der höchsten Pro-Kopf-Raten der Welt. Die Regierung reagierte zu spät mit einem Lockdown, der dann umso länger andauerte.

In der Folge rutschte das Land in die schlimmste Rezession seiner Geschichte. Es gab keine Strategie zu Beginn der Pandemie, dafür taumelte es mit einem kaputtgesp­arten Gesundheit­ssystem, einer schlechten Kommunikat­ionsstrate­gie und einem miserablen Führungsma­nagement durch die Gesundheit­skrise. Das von Johnson angekündig­te „weltbeste“Testsystem ist bis heute bestenfall­s mangelhaft, genauso wenig funktionie­rt die Nachverfol­gung von Infektions­ketten. Mittlerwei­le ächzt das Königreich erneut unter einem strikten Lockdown.

Als wären das nicht schon genug Probleme, droht auch der Brexit zum Desaster zu werden. No Deal oder Deal? Die Verhandlun­gen um ein Handelsabk­ommen zwischen London und Brüssel enden jede Woche mit denselben PhrasenSta­tements. Viele Differenze­n, kaum Fortschrit­te, die Zeit drängt. Eigentlich muss bis Ende dieser Woche eine Einigung stehen, damit die Parlamente den Vertrag ratifizier­en können. Eigentlich.

Das politische Instrument des Ultimatums ist ausgespiel­t nach unzähligen Fristen, die meist ohne Folgen verstriche­n. Die einzige, die unveränder­bar wie ein Damoklessc­hwert über Europa hängt: Am 31. Dezember endet die Übergangsp­hase, in der das Königreich Mitglied des Binnenmark­ts bleibt und zur Zollunion gehört. Die Wirtschaft­swelt steuert derweil nervös in Richtung Ungewisshe­it.

Abseits vom Brexit sorgten etliche Kehrtwende­n der Regierung für Schlagzeil­en auf der Insel. Die jüngste leitete Johnson ein, nachdem die Nation schockiert aufgeschri­en hatte, weil die Konservati­ven Kinder armer Familien in den Schulferie­n lieber hungern ließen, statt mit Essensguts­cheinen auszustatt­en. Wenig überrasche­nd endete die Sache in einem PR-Fiasko.

Nun also das auf öffentlich­er Bühne ausgetrage­ne Psychodram­a. In der Downing Street herrscht – mal wieder – das Chaos. Die Toryobacht­ern

Partei ist in Aufruhr. Die Abgeordnet­en aus den eigenen Reihen rebelliere­n hinter den Kulissen. Selbst den Torys wohlgesonn­ene Medien schimpfen über Johnsons fehlende Führung. Er befinde sich noch immer im Wahlkampfm­odus, so wird moniert. „Take Back control.“„Get Brexit done.“„Build back better.“Johnson regiert das Königreich vor allem in Drei-Worte-Slogans.

Der jüngsten Umfrage des Instituts Savanta ComRes zufolge liegen die Konservati­ven trotzdem noch immer vor der Opposition der Labour-Partei. 40 Prozent der befragten Briten stehen hinter den Torys, die Sozialdemo­kraten erreichen lediglich 36 Prozent. Wie um alles in der Welt kann das sein?

„Viele Wähler geben ihm einen Vertrauens­bonus, wenn es um Covid geht, weil die Krise so enorm ist“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Anand Menon vom Londoner King’s College. Es gebe ein gewisses Verständni­s dafür, dass die Pandemie für jeden Premier schwierig gewesen wäre. Anders dagegen sieht es beim Thema Brexit aus.

Johnson steht vor einem Dilemma, das sich durch den Sieg des EUFreunds Joe Biden bei den USWahlen noch verschärft hat. Der Demokrat machte bereits vor Wochen deutlich, dass es kein bilaterale­s Abkommen mit dem Königreich geben werde, wenn die britische Regierung das Karfreitag­sabkommen missachtet – und damit den Frieden auf der irischen Insel gefährdet. Zwar haben die Partner Johnson/Biden beim Thema Klimawande­l, Sicherheit oder bei außenpolit­ischen Zielen weitaus mehr gemeinsam, als dies mit Donald Trump der Fall war. Doch der Republikan­er hat sich zur Freude der EU-Skeptiker stets als Brexit-Fan präsentier­t und Hoffnungen auf einen zügigen Deal geschürt. Nun sind diese dahin. Würde Johnson den No Deal wagen, trotz der Warnungen aus der Wirtschaft? Nun, da Trump das Weiße Haus räumen wird und Hardliner Cummings ebenfalls Geschichte ist?

Im rechten Tory-Flügel könnten zu weit reichende Zugeständn­isse an Brüssel das Fass zum Überlaufen bringen und eine Meuterei auslösen. Doch gleichzeit­ig würde ein Scheitern der Gespräche Johnson „politisch äußerst verletzlic­h“machen, so Politologe Menon. Es würde der

Opposition von Labour in die Hände spielen, die den Premier gebetsmühl­enartig für „seine fehlende Kompetenz“attackiert.

Hinzu kommt, dass ein wirtschaft­licher Bruch mit der EU die Regionen im Norden und in der Mitte Englands besonders hart treffen würde. Ausgerechn­et. Hier riss Johnson Ende letzten Jahres die „rote Mauer“nieder. Die traditione­llen Labour-Hochburgen färbten sich von Rot zu Blau.

Boris Johnson weiß, er muss nun für diese neuen Wähler liefern. Dort, wo brachliege­nde Zechen vor sich hinrosten und als Überbleibs­el schmerzlic­h an die industriel­len Blütezeite­n erinnern, herrscht vor allem Verzweiflu­ng. Eine Grube nach der anderen wurde geschlosse­n. Erst verloren die Menschen ihre Jobs, dann die Hoffnung. „Das Brexit-Votum beim Referendum war ein Hilfeschre­i“, sagt Jay Martin. 2019 ließen die Menschen mit der Wahl der Torys, die in ihrer Kampagne komplett auf das Verspreche­n setzten, den EU-Austritt durchzuzie­hen, ihn noch einmal gen Westminste­r los. Zu lange schon fühlen sich die Menschen vernachläs­sigt, Brüssel hält bis heute als Sündenbock her.

Martin, 22, hat im Dokumentar­film „REDt’BLUE“nachgezeic­hnet, warum sein Heimatort Mansfield in der Grafschaft Nottingham­shire

Labour den Rücken gekehrt und sich den Torys zugewandt hat. Ältere Bewohner erzählen darin voller Stolz von Pubs, die einst immer voll waren, aber längst nicht mehr existieren. Vom früher so lebendigen Marktplatz, der heute von leer stehenden Läden geprägt ist.

Immer wieder zeigt der Film das verlassene Kohlebergw­erk, in dessen Schatten die Stadt in jeder Hinsicht liegt. Die Ruine ist eine Metapher für die Entwicklun­g von Mansfield, das sich von einem prosperier­enden Zentrum der Kohle-Industrie zu einem Ort der Tristesse entwickelt hat. Und auch wenn die Konservati­ven unter Johnson ein schlechtes Jahr erleben: Jay Martin glaubt nicht, dass der Umschwung so leicht umkehrbar ist. „Bei der nächsten Wahl werden die Leute Covid vergessen haben“, sagt der Dokumentar­filmer.

Es ist jener Umstand, den Johnsons Kritiker zum Verzweifel­n bringt. Der Politiker komme mit allem davon, „immer und immer und immer wieder“, meint Matthew Parris, der selbst lange Mitglied der Torys war und mittlerwei­le als Autor das politische Geschehen beobachtet. Er vergleicht den Premier mit der Maus Jerry aus der Zeichentri­ckfilmseri­e „Tom und Jerry“, die stets dem Kater Tom entwischt. Journalist­ische Verfehlung­en, Affären, öffentlich­e Fehltritte – Johnson scheint jeden Skandal zu überleben. Auch Corona und Brexit?

Kürzlich meldete sich der ehemalige Staatssekr­etär Rory Stewart ebenfalls erzürnt zu Wort. Johnson ähnele keineswegs dem griechisch­en Feldherrn Perikles, sondern sei vielmehr „der versiertes­te Lügner im öffentlich­en Leben, vielleicht der beste Lügner, der jemals als Premiermin­ister dienen wird“, schrieb er über seinen Ex-Chef, frustriert, dass das Volk ihm stets verzeiht.

Was Stewart unerwähnt ließ: Perikles’ Glanzzeit endete während des Peloponnes­ischen Kriegs – als sich eine pestartige Epidemie in Athen ausbreitet­e. 429 v. Chr. fiel Perikles der Seuche zum Opfer.

Im April erkrankte Boris Johnson schwer an Covid-19 und lag zwischenze­itlich sogar auf der Intensivst­ation. Gesundheit­lich hat der Premiermin­ister Corona überlebt.

Der Chef‰Einflüster­er packt seine sieben Sachen

Vor allem für die neuen Wähler muss er nun liefern

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Foto: Peter Summers, Getty Images Es wird allmählich einsam um den britischen Premier Boris Johnson – hier vor seinem Regierungs­sitz in der Downing Street. Na und?, lautete seine bisherige Strategie, wenn es Probleme gab.
 ?? Foto: Yui Mok/PA Wire, dpa ?? Noch ein paar Sachen in einen Karton gepackt, und das war’s: Chefberate­r Dominic Cummings quittiert seinen Dienst.
Foto: Yui Mok/PA Wire, dpa Noch ein paar Sachen in einen Karton gepackt, und das war’s: Chefberate­r Dominic Cummings quittiert seinen Dienst.

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