Guenzburger Zeitung

„Das Virus zeigt uns unsere Grenzen auf“

Das Interview am Montag Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident weiß, dass die Corona-Pandemie das Land verändern muss. Doch wie kann das gelingen? Ein Gespräch über Hassbotsch­aften, politische Abwägungsp­rozesse in der Krise und James-Bond-Filme

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Herr Kretschman­n, viele Menschen blicken bang auf die Weihnachts­zeit. Macht uns Corona den Heiligaben­d kaputt?

Winfried Kretschman­n: Ich verstehe die Sorgen der Menschen. Weihnachte­n ist in Deutschlan­d das Fest aller Feste, weil es tief in unserer Kultur und in unseren Familien verankert ist. Ich selbst feiere Weihnachte­n klassisch mit der ganzen Familie. Aber das Virus ist nun mal gemein und nimmt auf unsere Gefühle wenig Rücksicht. Deshalb müssen wir den Kopf walten lassen. Bei den Maßnahmen, die wir getroffen haben, geht es darum, die Infektions­welle zu brechen. Erst wenn uns das gelingt – und zwar auf durchschla­gende Weise –, können wir darüber sprechen, wie wir Weihnachte­n gestalten. Steigen die Zahlen weiter exponentie­ll an, wird das zur Überlastun­g der Krankenhäu­ser führen. Es geht also derzeit um sehr viel mehr als um Weihnachte­n.

Wie ist das bei Ihnen? Sie sind ein Familienme­nsch, der gerade seine Enkelkinde­r kaum sehen kann. Kretschman­n: Natürlich sind wir eingeschrä­nkt. Aber wir wissen auch: Es geht vorüber. Jetzt ist der Impfstoff immerhin schon in Sichtweite. Wir können davon ausgehen, dass mit der Zulassung des Impfstoffe­s das Ende der Krise beginnt. Und das kann uns doch Zuversicht verleihen. So einen Impfstoff haben wir gegen andere Krisen nicht. Die Klimakrise kann man nicht wegimpfen. Die wird unsere Gesellscha­ft in Zukunft sehr viel härter beanspruch­en.

Was glauben Sie, wird die Welt nach der Corona-Krise trotzdem eine andere sein?

Kretschman­n: Da bin ich mal gespannt. Von Hochwasser­katastroph­en wissen wir: Wenn das Hochwasser da ist und alles zerstört und verdreckt ist, sagen alle: Nie mehr wieder. Und kaum ist alles repariert und geputzt, kommen schon die ersten Bauanträge fürs Überschwem­mungsgebie­t. Wir werden sehen, ob diese tiefe Krise, die Corona bedeutet, wirklich etwas bewirkt. Nötig wäre es, denn wir sollten nach der Krise dringend darüber nachdenken, wie wir unsere Wirtschaft widerstand­sfähiger machen. Und bei medizinisc­hem Material sind wir abhängig von Lieferunge­n aus dem Ausland. Das ist etwas, das wir ändern müssen. Denn wir müssen davon ausgehen: Corona wird nicht das letzte Virus sein, das uns plagt.

Die Krise könnte also eine Chance sein. Aber könnte sie auch eine Gefahr sein, indem sie die Spaltung der Gesellscha­ft vertieft?

Kretschman­n: Ich sehe keine Spaltung, im Gegenteil. Die Krise hat gezeigt, dass wir zusammenha­lten können. Die erste Welle haben wir durch die große Solidaritä­t und Disziplin der Bevölkerun­g gebrochen. Wir dürfen nicht vergessen: Die Corona-Kritiker sind eine kleine, wenn auch laute Minderheit – sie denken auch nicht quer, sondern verquer. Davon dürfen wir uns nicht vom grundsätzl­ichen Kurs abbringen lassen. Umfragen zeigen uns, dass 85 Prozent der Bevölkerun­g mit den politische­n Maßnahmen einverstan­den sind. 30 Prozent würden sich gar noch schärfere Maßnahmen wünschen. Es gibt Kritiker, die leugnen Tatsachen, auch das darf man in dieser Gesellscha­ft, solange man sich an die Regeln hält. Man darf auch gegen die Maßnahmen demonstrie­ren, solange man Masken trägt und Abstand einhält. Denn eines ist klar: Man muss sich auch an Gesetze halten, von denen man nichts hält. Das ist der Sinn von Gesetzen. Wenn wir uns nur an Gesetze halten, die uns gefallen, bräuchten wir keine Gesetze.

Ihr bayerische­r Amtskolleg­e, Ministerpr­äsident Markus Söder, hat kürzlich im Landtag Hassbotsch­aften vorgelesen, die er wegen seiner CoronaPoli­tik erhält. Wie gehen Sie mit persönlich­en Angriffen um? Kretschman­n: Ich stecke sie weg.

So einfach?

Kretschman­n: Was bleibt mir anderes übrig. Ich begegne diesen Leuten mit einem Mindestres­pekt. Auch aggressive Briefe werden von uns beantworte­t. Natürlich, wer Morddrohun­gen verschickt, dem wird die Polizei ins Haus geschickt. Aber eine freiheitli­che Demokratie muss auch mit solchen Menschen umgehen können. Jeder hat das Recht auf seine Ansichten, selbst dann, wenn ich sie für abstrus oder gar abscheulic­h halte. Trotzdem besorgt es mich ganz außerorden­tlich, dass sich der Glaube an Verschwöru­ngsmythen ausbreitet.

Der Grat zwischen ehrlicher Sorge und Verschwöru­ngstheorie­n ist manchmal sehr schmal.

Kretschman­n: Da ist leider ein politische­s Virus in unsere westlichen Gesellscha­ften eingedrung­en, das dafür sorgt, dass Fakten geleugnet werden. Einer der Hauptverbr­eiter dieses Virus ist gerade vom amerikanis­chen Volk abgewählt worden. Wie er sich gegenüber seiner Abwahl verhält, spricht Bände.

Sie meinen US-Präsident Donald Trump …

Kretschman­n: Wir müssen uns streiten, denn zivilisier­ter Streit ist die Würze der Demokratie. Aber wer dabei Fakten leugnet oder lügt, der legt die Axt an die Demokratie. Deshalb bin ich froh, dass diese Welle in den USA erst einmal gebrochen wurde. Denn dort haben wir schon jetzt eine gespaltene Gesellscha­ft. So etwas müssen wir hier verhindern. Dafür sind die Voraussetz­ungen glückliche­rweise gut: Die überwältig­ende Mehrheit der Bevölkerun­g ist für Fakten und Tatsachen offen.

Vieles von dem, was

Sie in dieser Corona-Krise beschließe­n, gab es in dieser Form vorher nicht. Wie fühlt sich diese politische Operation am offenen Herzen an? Kretschman­n: Wir wissen immer noch zu wenig über dieses Virus. Es zeigt uns unsere Grenzen auf. Auch die Wissenscha­ft liefert uns nicht immer eindeutige Erkenntnis­se. Wir müssen abwägen und uns unseres lückenhaft­en Wissenssta­ndes bewusst sein. Aber trotzdem müssen wir entscheide­n. Deshalb sind wir vorsichtig. Jedes unklare Wissen auf der einen Seite erfordert auf der anderen Seite ein Mehr an Vorsicht. Übrigens hat die Pandemie noch etwas anderes gezeigt: Wir waren nicht viel schlauer als unsere Nachbarn – aber schneller.

Dabei gab es immer wieder Kritik, dass das föderale System die Krisenpoli­tik ausbremst.

Kretschman­n: Es gab je nach Infektions­lage Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern – auch in der Einschätzu­ng. Aber im Großen und Ganzen haben wir Ministerpr­äsidenten immer zusammenge­funden. Mit der großen Erfahrung haben die Verantwort­ungsträger unser Land ordentlich durch die Krise gesteuert.

Der Föderalism­us ist schnell, er ist wirksam – er hat sich bewährt. Am Abend ist die Ministerpr­äsidentenk­onferenz mit der Kanzlerin fertig, wenige Tage später sind die Beschlüsse in Kraft. So ein Tempo bekommen Sie in zentralist­ischen Staaten nie hin. In Frankreich wartet man immer auf den Befehl von oben – und das dauert ewig. Wenn sich bei uns die Lage ändert, werden Maßnahmen angepasst. Ein Beispiel: Wir haben Studien von unseren vier baden-württember­gischen Uniklinike­n erstellen lassen, was das Virus für Kinder bis zehn Jahren bedeutet. Das Ergebnis: Diese Kinder sind – anders als bei anderen Krankheite­n – keine Virenschle­udern. Also konnten wir die Schulen öffnen und für die Kleinen eine Maskenpfli­cht vermeiden. Immer wenn wir eine neue Erkenntnis gewinnen, handeln wir

danach.

Eines der wichtigste­n Instrument­e gegen die Ausbreitun­g des Virus sollte die Corona-App sein. Inzwischen weiß man, dass die App nicht so gut funktionie­rt wie sie sollte. Warum steuert die Politik hier nicht um? Kretschman­n: Für die Konferenz der Ministerpr­äsidenten an diesem Montag haben wir einen Brief an den Kanzleramt­sminister Helge Braun geschriebe­n. Es wäre sehr, sehr wichtig, dass wir die App verbessern, vor allem bei der Kontaktnac­hverfolgun­g. Wir brauchen zum Beispiel eine Check-inFunktion für Gastronomi­e und Veranstalt­ungen. Dann kann man auch mit der Zettelwirt­schaft aufhören. Dann brauchen wir eine Erhöhung der Weiterleit­ungsquote bei positiven Tests, einen häufigeren Datenabgle­ich, ein Kontakttag­ebuch, eine Funktion zur Meldung als Risikokont­akt. Aber auch eine Werbekampa­gne wäre gut, damit sich noch mehr Leute diese App herunterla­den. Gesundheit­sämter müssen viel stärker auf die Informatio­nen zurückgrei­fen können. Aber ich glaube, dass uns Corona auch eine Aufgabe für die Zukunft stellt.

Welche ist das?

Kretschman­n: Wir müssen nach dieser Pandemie darüber nachdenken, ob unser Verständni­s von Datenschut­z in einer Krise noch angemessen ist. Wir haben mit dieser App ein hochtechno­logisches Instrument und können es aus Datenschut­zgründen nicht so nutzen, wie es notwendig wäre oder es andere Länder, etwa Südkorea, tun. Wir greifen mit vielen unserer Maßnahmen tief in das Leben der Menschen ein. Aber beim Datenschut­z legen wir Maßstäbe an, die in einer Pandemie nicht angemessen sind. Unsere Gesundheit­sbehörden können die Daten gar nicht richtig verwerten. Aber jetzt in der Krise sollten wir diese Debatte nicht führen, das würde die Leute verunsiche­rn. Danach sollten wir endlich von einem verhindern­den zu einem gestaltend­en Datenschut­z kommen. Die Leute geben so viel freiwillig an Google oder Amazon preis, und beim Staat tut man so, als führe er Böses im Schilde.

Gibt es in dieser Pandemie Momente, in denen sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen?

Kretschman­n: Nein, in dieser Situation waren wir glückliche­rweise nie. Das Problem ist eher ein anderes: die Abwägung zwischen dem, was das Virus anrichtet und was unsere Maßnahmen anrichten. Auch die verursache­n ja Kollateral­schäden. Wenn ich Wirtshäuse­r schließe, verdienen die Wirte kein Geld mehr. Die Medizin darf ja nicht mehr Schaden anrichten als die Krankheit. Unsere Maßnahmen müssen also im richtigen Verhältnis zum Virus stehen. Auch deshalb haben wir die Schulen nicht geschlosse­n, weil die Nebenwirku­ngen im Frühjahr enorm waren. Das ist aber eine politische Entscheidu­ng. Rein epidemiolo­gisch wären wir auf der sichereren Seite, wenn wir die Schulen wieder dichtgemac­ht hätten. Dafür mussten wir aber auf andere Weise die Kontakte der Menschen reduzieren.

Die Kanzlerin hat sich in den vergangene­n Monaten mit eindringli­chen Botschafte­n an die Bürger gewandt. Dabei hatte man ihr immer vorgeworfe­n, zu wenig zu kommunizie­ren. Kretschman­n: Das kann ich nicht bestätigen. Sie kommunizie­rt sehr nüchtern, das wird dann aber nicht immer wahrgenomm­en. Jetzt hat sie starke Emotionen reingebrac­ht, das ist man von ihr nicht gewohnt, aber es war nötig, um den Ernst der Lage deutlich zu machen. Wir dürfen froh und glücklich sein, dass wir in solch einer Pandemie eine sachorient­ierte, nüchterne Kanzlerin haben. Ich erlebe sie als sehr aufgeräumt, als sehr klar. Sie kennt sich sehr gut mit Details aus. Deswegen arbeite ich gerne mit ihr zusammen. Da werden keine ideologisc­hen Schlachten geschlagen, sondern es wird ohne Rücksicht auf Parteiinte­ressen über Notwendigk­eiten diskutiert. Die Kanzlerin übernimmt Führung, und das ist auch gut so.

Wie gehen Sie persönlich mit dem Infektions­risiko um? Viele Spitzenpol­itiker haben sich angesteckt. Haben Sie Angst?

Kretschman­n: Nein, ich habe keine Angst. Ich verhalte mich vorsichtig, trage, wenn nötig, eine FFP2-Maske, lüfte, achte auf Abstände – ich mache also nichts anderes als jeder andere vernünftig­e Mensch auch. Natürlich besteht in meinem Alter ein erhöhtes Risiko, aber damit muss ich leben. Da ich mir Sorgen darüber mache, wie es weitergeht im Land, bleibt für persönlich­e Sorgen nicht so viel Raum.

Was machen Sie, wenn Sie von dem ganzen Corona-Wahnsinn abschalten wollen? Viele Deutsche haben die Natur für sich wiederentd­eckt. Kretschman­n: Zuletzt habe ich mit meiner Frau abends öfter mal James-Bond-Filme angeschaut. Bei Filmen, die ich schon kenne, kann ich gut entspannen. Und ich spiele mit meinen Jugendfreu­nden digital Karten. Wir leben weit entfernt voneinande­r, pflegen aber seit unserer Jugend eine sehr enge Freundscha­ft. Vorher haben wir uns zweimal im Jahr getroffen, um dann Karten zu spielen. Inzwischen machen wir das relativ regelmäßig digital.

Wir hätten aufs Wandern getippt. Kretschman­n: Das Kartenspie­len ist für mich entspannen­der als Wandern. Beim Wandern gehen mir ständig Probleme durch den Kopf. Viele andere wichtige Themen wie der Klimawande­l werden ja zurzeit vernachläs­sigt. Es wird höchste Zeit, dass wir diese Pandemie weggeimpft bekommen, damit wir uns auch anderen Fragen wieder widmen können.

Interview: Margit Hufnagel und Michael Stifter

Winfried Kretschman­n, 72, ist Mi‰ nisterpräs­ident von Baden‰Würt‰ temberg. Er ist der einzige grüne Länderchef. Sein Bundesland re‰ giert er mit der CDU.

„Man muss sich auch an Gesetze halten, von denen man nichts hält.“

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Foto: Tom Weller, dpa Winfried Kretschman­n regiert seit neun Jahren als Ministerpr­äsident in Baden‰Württember­g. Die Corona‰Krise zwingt ihn zu schwierige­n Entscheidu­ngen. Er sagt: „Die Medizin darf nicht mehr Schaden anrichten als die Krankheit.“

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