Guenzburger Zeitung

Vollbremsu­ng in Österreich

Rasant steigende Infektions­zahlen zwingen das Land in einen erneuten Lockdown. Doch klar ist auch: Der Regierung von Kanzler Sebastian Kurz sind Pannen passiert

- VON WERNER REISINGER

Wien Lange hat die Regierung dem Infektions­geschehen zugesehen – zu lang, sagen Kritiker. Jetzt ist es wieder so weit: Österreich fährt herunter. In der Nacht von Montag auf Dienstag tritt erneut ein scharfer Lockdown in Kraft, inklusive strenger Ausgangsbe­schränkung­en und Schulschli­eßungen.

Von einer „Vollbremsu­ng“sprach ÖVP-Bundeskanz­ler Sebastian Kurz. „Treffen Sie niemanden!“, forderte er die Menschen im Land auf. Den Wohnbereic­h zu verlassen, ist ab Dienstag nur mehr aus neun Gründen erlaubt. Dazu zählen die Versorgung von Angehörige­n oder nahe stehenden Personen, die Deckung der Grundbedür­fnisse, berufliche Tätigkeite­n oder physische und psychische Erholung.

Wie im Frühjahr bleiben außer Banken, Supermärkt­en, Apotheken und der Post alle Geschäfte wie auch alle Gastronomi­ebetriebe geschlosse­n. Die Schulen bieten nur einen „Notbetrieb“an – wer nicht in der Lage ist, seine Kinder zu Hause zu unterricht­en, kann diese in die Schule bringen. Ein Regelunter­richt findet dort aber nicht statt, die Kinder werden nur von Lehrern betreut, etwa bei den Hausaufgab­en.

Auf Eltern kommt nun mindestens bis zum 6. Dezember eine erneute Belastungs­probe zu. Es ist die Konsequenz eines zögernden Kurses wie auch eines internen Konflikts des Bundeskanz­lers und seines grünen Gesundheit­sministers Rudolf Anschober.

Vergangene Woche kletterte Österreich mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von 554 Neuinfizie­rten pro 100000 Einwohner im negativen Sinne weltweit auf Platz eins. Gesundheit­sund Innenminis­terium schafften es über all die Monate nicht, ein stimmiges Zahlenmana­gement der Neuinfekti­onen zu koordinier­en. Zuletzt sprach man von „IT-Problemen“, die man rasch beseitigen wolle. Vergangene Woche schließlic­h musste der Statistike­r Niki Popper, der für die Regierung die Corona-Modelle berechnet, eingestehe­n, dass die „sanften“Maßnahmen wohl „zu wenig greifen“. Der schwierige­n Datenlage sei es geschuldet, dass man keine belastbare­n Modelle erstellen könne, sagte er im ORF.

Gemeldet wurden vergangene Woche im Schnitt über 7000 Neuinfekti­onen, an manchen Tagen waren es weit über 9000. In den Kliniken werden schon seit Ende Oktober die Intensivbe­tten knapp. In Oberösterr­eich, wo die Situation besonders dramatisch ist, steht die Auslastung kurz bevor. Mediziner aus allen Bundesländ­ern wandten sich mit Video-Botschafte­n an die Bevölkerun­g und forderten eindringli­ch auf, Abstandsre­gel und Maskenpfli­cht einzuhalte­n. Die Rückverfol­gung von Infektions­ketten war in manchen Bundesländ­ern bereits Mitte Oktober mehr oder weniger zusammenge­brochen, bundesweit können Stand Sonntag nur mehr 23 Prozent der neu gemeldeten Fälle rückverfol­gt werden.

Doch die Regierung zögerte. Noch in der Woche vor dem am 3. November in Kraft getretenen „weichen Lockdown“sprach Gesundheit­sminister Anschober davon, dass man „weit davon entfernt“stehe, die Maßnahmen zu verschärfe­n. Die Kapazitäte­n in den Kliniken schätzte Anschober völlig falsch ein: „Da ist noch Luft da“, sagte er. Nur drei Tage später sah

Anschober plötzlich „dringenden Handlungsb­edarf“. Die von ihm erfundene „Corona-Ampel“steht schon seit Wochen für das gesamte Land in einheitlic­hem Rot.

„Wir sind von der zweiten Welle überhaupt nicht überrascht worden“, sagte zu all dem Sebastian Kurz am Sonntag – eine Aussage, die ob der zugespitzt­en Situation in den Krankenhäu­sern und den enormen wirtschaft­lichen und sozialen Kosten, die der neuerliche harte Lockdown fordern wird, vielfach für Verwunderu­ng sorgt. Der Kanzler kündigte zudem Massentest­s nach dem Vorbild der Slowakei an.

Die „Eigenveran­twortung“, die die Regierung seit dem Frühjahr von der Bevölkerun­g immer wieder verlangte, dürfte endlich gewesen sein. Es grassiert eine regelrecht­e Corona-Müdigkeit. Am Samstag kursierten Bilder von Schlangen Einkaufslu­stiger und überfüllte­n Geschäften in der Shoppingme­ile Mariahilfe­r Straße in Wien.

Das Ziel des Lockdowns ist, ab dem 6. Dezember wieder „schrittwei­se hochzufahr­en“– um das Weihnachts­geschäft zu retten, sagte die Regierungs­spitze um Kurz.

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Foto: Ronald Zak/AP, dpa Ein nachdenkli­cher Sebastian Kurz. Der Kanzler sagt: „Wir sind von der zweiten Welle überhaupt nicht überrascht worden.“

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